Licht und Schatten: TAVOR mit dem Benzodiazepin-Wirkstoff „Lorazepam“
Bei Tavor Tabletten bzw. Tavor Expidet Plättchen handelt es sich um Medikamente auf Basis des Wirkstoffs Lorazepam, um Arzneimittel aus der Gruppe der Benzodiazepine.
Lorazepam zählt zu den sogenannten „Tranquilizern“, also Beruhigungsmitteln (vgl. unsere Beruhigungsmittel Liste). Es wird seit den Sechzigerjahren unter verschiedenen Namen vertrieben, vornehmlich Tavor, Temesta oder Ativan.
Ein übliches Mittel ist Tavor 0.5 und Tavor 1.0, wobei hier auf die Wirkstoffmengen 0,5 mg und 1 mg Bezug genommen wird. In höheren Dosierungen (ab 2,5 mg) fällt es in Deutschland sowie vielen anderen Staaten unter das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), das den Umgang mit potentiell suchterzeugenden Betäubungsmitteln regelt. In diesem Rahmen unterliegt es strengeren Vorschriften als andere Medikamente, deren Verordnung und Inverkehrbringen lediglich durch das Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt wird.
Tavor Wirkung (Wirkstoff und Wirkweise)
Wie bei allen Benzodiazepinen beruht die Grundstruktur von Tavor auf einem Benzol- sowie einem Diazepinring, an den weitere Verbindungen anschließen. Die Summenformel lautet C15H10Cl2N2O2. Das Medikament ist imstande, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und bindet an die GABAA-Rezeptoren im Gehirn, wo es zu einer Öffnung der Chloridkanäle führt. Durch die Bindung wird der hemmende Effekt des Neurotransmitters GABA verstärkt und der Erregungszustand des gesamten Nervensystems abreguliert. Aus diesem Grund hat es sowohl sedierende (beruhigende), als auch entspannende, muskelrelaxierende und antikonvulsive (entkrampfende) Wirkung.
- flexikon.doccheck.com/de/Lorazepam
- pharmawiki.ch/wiki/index.php?wiki=Lorazepam
Anwendungsgebiete
Gängige Darreichungsformen von Tavor sind Filmtabletten mit einer Dosierung von 0,5mg, 1,0mg, 2,0mg und 2,5mg. Zudem gibt es sie als Tavor Expidet.
Tavor Expidet bezeichnet die unter der Zunge oder in der Wange auflösbare Form der Tabletten. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit einer intravenösen oder intramuskulären Gabe, wenn die Umstände es erfordern. Es verfügt über eine mittlere Wirkungsdauer. Die genaue Dosis variiert je nach Krankheitsbild, Alter, Gewicht und sonstigem Gesundheitszustand des Patienten. Sie muss durch den behandelnden Arzt individuell nach diesen Faktoren abgestimmt werden.
Die Anwendungsgebiete von Tavor sind vielfältig. Es dient der Kurzzeitbehandlung der Symptome verschiedener psychischer Erkrankungen (siehe unsere psychische Krankheiten Liste), die mit starker Erregung, Verzweiflung, Angst, Panik oder dissoziativen Erscheinungen (siehe dissoziative Störungen) einhergehen. Zu diesen zählen beispielsweise:
- Angst- und Panikstörungen,
- Depressionen,
- Psychosen,
- posttraumatische Belastungsstörungen,
- schwere Schlafstörungen
- und viele weitere.
In diesen Fällen können Mittel wie Tavor wahlweise über einen kurzen Zeitraum bis maximal wenige Wochen verabreicht werden, um Belastungsspitzen zu mildern und eine bessere Therapiefähigkeit zu erreichen. Der Einsatz eignet sich insbesondere aufgrund der schnell einsetzenden Wirkung. Sie können in entsprechender Dosierung somit gut auch als „Stand-by“-Notfallmedikation genutzt werden, die jeweils nur einmalig im Falle einer Episode der Verschlechterung genutzt wird, um selbstgefährdendes Verhalten oder Suizidalität zu vermeiden (siehe Selbstmord Gedanken).
Des Weiteren kann Tavor in Krisensituationen wie einem Schock oder einem einschneidenden, traumatischen Ereignis – beispielsweise ein schwerer Autounfall oder ein unerwarteter Todesfall (siehe auch Angst vor dem Tod) – genutzt werden, um die ersten Auswirkungen abzumildern – gerade auch aufgrund der schnellen Wirkungsdauer.
Ein drittes Einsatzgebiet stellt die Nutzung im Rahmen von operativen Eingriffen sowie unangenehmen Untersuchungen wie Zahnarztbehandlungen (siehe Dentophobie / Dentalphobie) oder Endoskopien dar. Speziell hier ist die bei höheren Dosierungen häufig auftretende anterograde Amnesie erwünscht. Unter Umständen kann es im Rahmen der Schmerztherapie und Palliativmedizin eingesetzt werden, um einen besseren Umgang mit Schmerzen und Ängsten zu erzielen.
Schlussendlich wird Tavor bei epileptischen Anfällen (speziell im Status epilepticus) und bei starker Übelkeit, beispielsweise während einer Chemotherapie, angewandt.
- fachinfo.de/pdf/002029
- patienteninfo-service.de/a-z-liste/t/tavor-10-mg/
Tavor Nebenwirkungen
Unerwünschte Nebeneffekte / Nebenwirkungen können, müssen jedoch nicht im Rahmen jeder medikamentösen Behandlung auftreten (vgl. auch Antidepressiva Nebenwirkungen).
- Sehr häufig (mehr als 1 von 10 Behandelten) treten insbesondere Sedierung, Benommenheit und Müdigkeit auf.
- Häufig (mehr als 1 von 100 Behandelten) kommen Muskelschwäche, Mattigkeit, Gang- und Bewegungsunsicherheit, Verwirrtheit, Schwindel und Depressionen vor.
- Weitere Nebenwirkungen sind Überempfindlichkeitserscheinungen sowie allergische Reaktionen, Veränderungen von Blutbild, Hormonen, Körpertemperatur und Blutdruck.
- Dazu werden Übelkeit und Verstopfung, Impotenz und Libidoveränderungen, Störungen der Bewegungsabläufe, Sehstörungen, Zittern, Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Luftnot und eine Reihe unterschiedlicher psychischer Reaktionen beobachtet.
- Möglicherweise kann eine längere Einnahme zur Toleranzentwicklung führen. Zudem können bestehende Erkrankungen wie COPD eine Verschlechterung erfahren.
- Eine genaue Aufstellung der Nebenwirkungen ist dem Beipackzettel zu entnehmen, der Details zu Wirkung, Dosierung, Wirkungsdauer und Nebenwirkungen erläutert. (Leider jedoch auch heute oft noch nicht die Aspekte rund um Abhängigkeit-Symptome sowie Entzug).
Einige dieser Probleme bilden sich bereits nach kurzer Einnahmezeit zurück. Auftretende Nebenwirkungen dieser oder anderer Art sind jedoch in jedem Fall mit dem behandelnden Arzt zu besprechen, dieser kann das Für und Wider einer Weiterbehandlung mit dem Patienten abwägen.
Ein Einsatz während der Schwangerschaft oder Stillzeit ist höchstens im absoluten Notfall zu erwägen, da Schäden am ungeborenen Kind nicht auszuschließen sind und nach der Geburt möglicherweise ein Entzug notwendig wird (mitunter heftige Entzug-Symptome). Ebenso wenig ist jedoch ein rasches Absetzen des Medikaments ratsam. Neben einer Unverträglichkeit spricht eine vergangene Benzodiazepin- aber auch generell jede Substanzabhängigkeit gegen eine Behandlung mit Tavor – eine Ausnahme stellt nur der Einsatz im Rahmen eines (Alkohol-)Entzugs dar.
- apotheken-umschau.de/Medikamente/Beipackzettel/TAVOR-1.0-1463682.html
- onmeda.de/Medikament/Lorazepam-ratiopharm+1+mg|-2,5+mg–wirkung+dosierung.html
Missbrauch und Abhängigkeit
Bei der regelmäßigen Einnahme von Tavor ist bereits nach wenigen Tagen mit ersten Absetzerscheinungen (Entzug-Symptomen) zu rechnen. Daher sollte die Dosis nur langsam verringert – „ausgeschlichen“ – werden, um Probleme zu vermeiden. Aufgrund der häufig als angenehm empfundenen Beruhigungswirkung ist jedoch auch die psychische Komponente der Suchtgefahr nicht zu unterschätzen. Dies betrifft vor allem Patienten, die unter den Symptomen psychischer Erkrankungen leiden – hier kann der Leidensdruck so groß sein, dass ein Verzicht auf die lindernde Wirkung der Tabletten außerordentlich schwerfällt. Zu den, teilweise extrem heftigen, Entzugserscheinungen zählen:
- Schlafstörungen, vermehrtes Träumen
- Angst, Spannungszustände, Erregung, Unruhe, Verwirrtheit, Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit, Depressionen
- Kopfschmerzen
- Schwitzen
- Realitätsverlust, Verhaltensveränderungen, Panikattacken, Gedächtnisprobleme
- Kribbeln, Taubheitsgefühle, Überempfindlichkeit gegen Reize (Geräusche, Licht, Berührung), Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen, Delirium, übersteigerte Reflexe
- Erbrechen, Übelkeit, Bauchkrämpfe, Durchfall
- Muskelschmerzen, schneller Puls, übermäßiges Herzklopfen, Zittern, Fieber, Schwindel
- Krampfanfälle
Speziell letztere zählen zu den gefährlichen Nebenwirkungen, sodass unter Umständen während und auch längere Zeit nach der endgültigen Abdosierung von Tavor Medikamente eingenommen werden müssen, die die Krampfgefahr reduzieren.
Stationär wird in diesem Fall vorwiegend Clonazepam eingesetzt. Gerade die psychischen, oft paradoxen Anzeichen hingegen sind häufig bereits ein Zeichen von Abhängigkeit, dann weisen Patienten verstärkt die Symptome auf, die ursprünglich behandelt werden sollten. Der Entzug wird von vielen Betroffenen als ausgesprochen schwer und qualvoll beschrieben, vergleichbar mit dem von Opioiden oder Alkohol. Dies gilt besonders für Hochdosisabhängige.
Positiv zu betrachten ist jedoch die Möglichkeit psychisch schwer belasteten Menschen, ebenso wie Patienten im Status epilepticus, sehr rasch helfen und den akuten Leidensdruck erheblich verringern zu können. Oft wird erst mit einer Beruhigung des Allgemeinzustands, besonders bei Akutpatienten in der psychiatrischen Behandlung, die Fortführung des Alltags und eine Therapie (Psychotherapie) ermöglicht. In vielen Fällen standen vor der Einführung der Benzodiazepine nur die deutlich gefährlicheren und schwerere handhabbaren Barbitursäurepräparate zur Verfügung. Insofern gehen auch hier Licht und Schatten miteinander einher.
Eines der größeren Probleme besteht jedoch im, vor allem in früheren Zeiten, sehr sorglosen Umgang mit Beruhigungsmitteln durch medizinisches Personal. Dieser wurde durch das Fehlen entsprechender Warnhinweise von Seiten der produzierenden Pharmaindustrie aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst in Kauf genommen. Obschon das Abhängigkeitspotential bereits kurz nach Beginn der Vermarktung zu Beginn der Sechzigerjahre hätte bekannt sein müssten, erschienen entsprechende Warnungen erst zwanzig Jahre später in den Beipackzetteln und der Roten Liste. Daher entstanden rasch viele über Jahre oder Jahrzehnte hinweg abhängige Patienten, die sich ihrer Sucht jedoch nicht bewusst waren. Da sie ihre Medikamente größtenteils strikt nach der angeordneten Dosierung nahmen, wurde und wird der Konsum von Tranquilizern oftmals nicht als problematisch wahrgenommen. Auch heute noch stellt die iatrogene (durch Ärzte verursachte) Abhängigkeit den Löwenanteil der Suchtentwicklungen dar, als Straßendroge spielen Benzodiazepine eine eher geringe Rolle. Insgesamt wird die Anzahl Medikamentenabhängiger in Deutschland mit etwa 1,5 Millionen beziffert, wovon ein großer Anteil auf die Sucht nach Beruhigungsmitteln entfällt.
Eine kritische Auseinandersetzung mit den Gefahren ärzteinduzierter Sucht findet sich auch in diesem Video:
Andererseits zeigten erste ambulante Programme für Niedrigdosisabhängige in höherem Alter Erfolge. Hier ist besonders die Ansprache der Betroffenen wichtig, da viele ihre Probleme nicht mit dem – ärztlich legitimierten – Betäubungsmittelkonsum in Verbindung bringen. So können Betroffene ihre ursprünglichen Krankheitsanzeichen und die beginnenden Entzugserscheinungen häufig nicht auseinanderhalten und bestehen schon aus diesem Grund für eine Fortführung der Medikamentierung.
- pharmazeutische-zeitung.de/?id=52289
- dhs.de/suchtstoffe-verhalten/medikamente/benzodiazepine.html
- aerzteblatt.de/pdf/112/1/m1.pdf
Alternativen zu Tavor 0.5 / Tavor 1.0 mg
Ob und welche Alternativen zu Tavor bestehen, hängt von der Art der Grunderkrankung ab. In einigen Fällen, wie im Rahmen einer Epilepsieerkrankung, stehen für den regelmäßigen Einsatz eine Reihe anderer, wirksamer Medikamente (Antiepileptika) zur Verfügung, Lorazepam wird hier ohnehin nur als Notfallbehandlung eingesetzt. Ähnliches gilt für die Anwendung bei medizinischen Eingriffen – da es sich auch hier typischerweise um Einzelfälle handeln dürfte, die keine Abhängigkeitsgefahr mit sich bringen.
Schwieriger ist die Situation bei psychischen Erkrankungen, die mit längerfristig bestehenden Symptomen und hohem Leidensdruck einhergehen. Aufgrund der Suizidgefahr, die mit einigen dieser Erkrankungen einhergeht, geht von einer Behandlung mit einem Benzodiazepin unter Umständen das geringere Risiko aus. Ziel einer Psychotherapie sollte in dem Fall jedoch sein, die benötigten Medikamente auf ein Minimum zu reduzieren. Dies kann beispielsweise durch das Erlernen von Bewältigungsstrategien, Selbsthilfegruppen, Meditation, kognitive oder Gesprächstherapie erfolgen. Abgesehen davon kann in der Zwischenzeit auf Präparate mit geringerem Suchtpotential umgestiegen werden. Hier sind speziell verschiedene Antidepressiva mit angstlindernder Wirkung zu nennen. Bei sehr leichten Beschwerden können auch pflanzliche Mittel in Betracht gezogen werden. Zeitweise wurde davon ausgegangen, dass die neueren sogenannten Z-Medikamente (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) ein geringeres Risiko aufweisen, diese Ansicht muss jedoch als überholt betrachtet werden.
- epilepsie.hexal.de/epilepsie/medikamente/
- pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=31295
- zeit.de/2015/24/medikamenten-sucht-beruhigungsmittel-schlafmittel/seite-6