Das Emotionssystem Angst gehört zur evolutionären Grundausstattung des Menschen. Entwicklungsgeschichtlich stellt die Angst somit eine sehr alte Emotion dar, die uns das Überleben sichert und als normalpsychologisches Phänomen überaus sinnvoll ist. Einem Alarm-System gleich versetzt uns die Angst in die Lage, Gefahren zu erkennen und sie optimal abzuwehren, entweder durch Flucht oder Kampf. Angst ist darüber hinaus auch eine sehr starke Emotion, die innerhalb kurzer Zeit – nicht selten blitzartig – Kräfte mobilisiert, die es uns ermöglichen, über uns hinaus zu wachsen.
Analysiert man die Herkunft des Wortes „Angst“, findet man im Lateinischen das Substantiv „angustiae“, was „Enge der Brust“ beschreibt und das Verb „angere“, was „Kehle zuschnüren, das Herz beklemmen“ bedeutet. Aus dem Indogermanischen stammt das Wort „anghos“, was ebenfalls Enge, Beklemmung und Zuschnüren der Kehle umschreibt. Über das althochdeutsche Wort „angust“ ist es dann nicht mehr weit zu dem uns bekannten Begriff „Angst“.
Angst beschreibt also einen Zustand, bei dem uns die Luft wegbleibt, weil die Kehle zugeschnürt ist und Brustbeklemmungen auftreten. Je nach Gefahrensituation kann Angst zu einer explosionsartigen physischen und psychischen Aktivierung führen, die als Alarmreaktion den Körper auf schnelles Handeln vorbereitet.
Angst ermöglicht als Notfall- oder Bereitstellungsreaktion bei Gefahr sofort zu reagieren und Leib und Leben zu sichern. Intellektuelle Funktionen wie das Analysieren der vermeintlichen Gefahr („Ist das überhaupt gefährlich?“) werden dabei ausgeschaltet, da Nachdenken und Analysieren die Reaktion unweigerlich verzögern und zu nicht wieder gut zu machenden Schäden führen könnten. Ein Beispiel ist das Überqueren einer Straße, ohne dass man so richtig auf den Verkehr geachtet hat: Ein herannahendes Auto, das wir im letzten Augenblick wahrnehmen, Hupen oder Reifenquietschen veranlassen uns ohne langes Nachdenken zum Zurückweichen.
Angst als biologischer Schutzmechanismus
Angst gehört wie Trauer, Wut, Ekel, Freude und Überraschung zu unserem normalen Gefühlsrepertoire und entsteht immer dann, wenn wir bestimmte Umstände als gefährlich einschätzen. Auch wenn wir Angst als unangenehm und belastend empfinden, sie am liebsten überhaupt nicht empfinden möchten, ist sie als biologisches Alarmsignal zweckgerichtet und soll uns helfen, die potenzielle Gefahrensituation sicher zu überstehen. Wären wir Menschen völlig angstfrei, würde dieses Buch nicht existieren und niemand würde es lesen. Nicht, weil es ohne Angst keine Angststörungen geben würde, sondern, weil unsere angstfreien Vorfahren bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte wilden Tieren, Blitzen, Feuer, tiefen Flüssen usw. zum Opfer gefallen und von der Erdoberfläche verschwunden wären. Ein völlig angstfreies Leben ist daher nicht nur unrealistisch, sondern in gewissen Situationen sogar lebensgefährlich. Dass wir Angst empfinden können, sichert uns genauso wie Schmerz, Fieber oder Hunger das Überleben.
Angst als treibende Kraft
Angst und Angstreaktionen treten nicht nur in Verbindung mit realer Gefahr auf, sondern begleiten uns tagtäglich unbewusst durch banale Alltagssituationen. Selbst bei Aktivitäten, denen wir mit Freude nachgehen und die wir allenfalls mit Nervenkitzel und nicht so ohne Weiteres mit Angst in Verbindung bringen, ist sie mit dabei. Angst hilft uns, schwierige Aufgaben zu lösen, uns sorgfältig auf Prüfungen vorzubereiten (siehe auch Angst vor Prüfungen), beim Autofahren wachsam zu sein (siehe auch Angst alleine Auto zu fahren) und schwierige Lebenssituationen besonnen zu meistern.
Bergsteiger, Fallschirmspringer und Taucher kontrollieren sorgfältig ihre Ausrüstung, da sie wissen, dass Fehler und Nachlässigkeit unverzeihlich sein können. Angst beflügelt somit unsere Anstrengungen, sicher ans Ziel zu kommen und gute Leistungen abzuliefern. Sie ist ein wichtiger Lebensantrieb, der zur Reifung der Persönlichkeit beiträgt – vorausgesetzt, die Angstdosis stimmt. Übermäßige Angst hingegen kann Denken, Konzentration und Verhalten blockieren bis hin zum Versagen (siehe auch: Versagensängste überwinden). Und wer zu wenig Angst verspürt, lässt das Leben antriebslos an sich vorbeiziehen und begibt sich möglicherweise in Gefahr („Es wird schon nichts passieren.“).
Angst zeigt, was uns wichtig ist
Angst besitzt eine existenzielle Dimension, die sich in unseren Grundängsten wiederfindet. Dazu gehört die Verlustangst, die deutlich macht, was uns im Leben wirklich wichtig ist: Familie, Zuneigung, Ansehen, Besitz, Beruf, Macht, Gesundheit, langes Leben, Schönheit usw.
Ängste verraten daher viel über das Wertesystem eines Menschen und über seine Wünsche, denn das, was er fürchtet, darf keinesfalls passieren. Die größte Angst ist die Angst vor dem Tod, denn mit dem Tod sind alle unsere Bestrebungen, ein erfülltes Leben zu genießen und bestimmte Ziele zu erreichen, beendet. Verlustängste kennt nur der nicht, der keine Liebe empfindet.
Angst als lustvolle Erfahrung
Angst ist keinesfalls immer unangenehm und belastend, sondern kann auch als lustvoll empfunden werden. So bereiten Geisterbahnen, Horrorfilme, Kriminalromane und gefährliche Sportarten eine lustvolle Anspannung und das Zuschauen bei waghalsigen Zirkusnummern, Formel-1-Rennen und blutigen Boxkämpfen führt bei nicht wenige Menschen zu einem gewissen Prickeln. Selbst Meldungen aus Katastrophengebieten und über Kriegshandlungen mit reichlich Bild- und Filmmaterial werden sensationshungrig verfolgt, am besten live und unzensiert.
Über Menschen, die dabei lustvolle Gefühle der Angst und Erregung verspüren, sollte man nicht vorschnell urteilen. Denn Angst als etwas Lustvolles zu empfinden, haben wir alle schon im Kindesalter gelernt, wenn uns Märchen vorgelesen wurden, in denen Wölfe Großmütter aufgefressen haben und verirrte Kinder in Käfige gesperrt als Vorbereitung für ein Festmahl gemästet wurden.
Das, was bewusst gesuchte Angst lustvoll macht, ist nicht etwa bloße Erregung oder Voyeurismus, sondern der Wechsel von Anspannung zur Entspannung, wenn es im Horrorfilm ein Happy End gibt, die Todesspirale am Trapez gelingt, der Wolf getötet und die böse Hexe hereingelegt worden ist. Und erleichtert stellen wir fest, das wir Kriege und menschliche Tragödien dank TV und Internet aus der Distanz verfolgen und jederzeit abschalten können.