Wer eine Diagnose F41.1 laut ICD 10 in den Händen hält, leidet an einer generalisierten Angststörung. Diese kann auch als generalisierte Angstneurose angesehen werden.
Auf der einen Seite nimmt ein länger bestehender Leidensweg mit der Diagnosestellung eine neue Richtung an. Die Diagnose F 41.1 laut ICD 10 mag für viele Betroffene eine Erleichterung darstellen. Sie erklärt die verstörenden Symptome, die die Betroffenen in der Vergangenheit erlebt haben. Doch da viele dieser Symptome sich als körperliche Signale manifestierten, ist die Diagnose einer psychischen Störung auch oft ein Schock.
Oft nicht erkannt: die generalisierte Angststörung
Bevor die Diagnose F41.1 gestellt werden kann, müssen differenzialdiagnostisch möglicherweise vorliegende internistische oder neurologische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Manche davon können starke Ängste auslösen. Gleiches gilt für den Ausschluss anderer psychischer Störungen (psychische Krankheiten), in der Hauptsache für verschiedene Angststörungen oder Phobien. Diese können anhand bestimmter diagnostischer Kriterien voneinander unterschieden werden.
Problematisch ist: Generalisierte Angststörungen werden auch heute noch vielfach falsch diagnostiziert oder nicht erkannt. Stattdessen werden vom Arzt andere Angsterkrankungen oder Depressionen festgestellt. Oftmals werden jahrelang nur die vom Patienten geschilderten somatischen Symptome behandelt. Das bestätigt dessen Verdacht, er habe eine schwere Erkrankung körperlicher Natur. Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Angststörungen nicht als solche erkannt wird. Angststörungen können zum Beispiel oft als Komorbidität einer Depression vorliegen.
Wie äußert sich eine generalisierte Angststörung gemäß F 41.1 g?
Eine generalisierte Angststörung kann potenziell jeden Menschen betreffen. Oftmals trifft sie aber ängstlichere und labilere Naturen eher als solche, die normalerweise gefestigt sind. Es genügt jedoch eine tiefe persönliche Krise, um aus einem innerlich gefestigten Menschen eine Person zu machen, die in den Grundfesten erschüttert ist. Auf diesem Boden kann sich nach und nach eine generalisierte Angststörung entwickeln.
Im Fall der generalisierten Angststörung fehlt der konkrete Auslöser, der die Angst auslöst. Das ICD-10 definiert die generalisierte Angststörung – kurz GAS – unter der Kennziffer F41.1 als ein Angsterleben, das sich auf unzählige verschiedene Situationen bezieht. Potenziell kann für die Betroffenen hinter allen Situationen oder in allen Gegenständen eine Gefahr stecken. Die frei flottierenden Ängste benötigen keinen realistischen Grund, um zu gesteigerter Anspannung und Nervosität, starker Muskelanspannung, Schweißausbrüchen, Schwindelgefühlen, Herzrasen oder Oberbauchbeschwerden zu führen.
Der Betroffene ist bei dieser Diagnose ständig im Angstmodus. Er erlebt praktisch nie, dass seine Ängste sich über längere Zeit verabschieden. Er erlebtauch im Urlaub keine angstfreie Minute. Dabei kennt der Betroffene durchaus Phasen, in denen seine Ängste etwas abgemildert sind. Es besteht jedoch eine generell ängstliche Grundhaltung gegenüber dem Leben und der Mitwelt. Die Betroffenen befinden sich ständig im Grübel-Modus. Unterschwellig bestimmen Ängste das gesamte Denken und Fühlen.
Die Ängste haben sich verselbstständigt. Sie betreffen nicht nur vermeintliche Risiken für die eigene Person. Sie erstrecken sich auch auf Freunde und Verwandte. Was, wenn diesen Menschen etwas passiert? Was, wenn der Bruder auf dem Weg zur Arbeit tödlich verunglückt? Was, wenn das Corona-Virus die halbe Familie auslöscht, das aufziehende Gewitter den Keller flutet oder der Bus, in dem die Tochter sitzt, ausbrennt? Selbst weit entfernte Geschehnisse, die uns gar nicht betreffen, sind für den Menschen mit einer generalisierten Angststörung Risiken, die Ängste auslösen.
Siehe auch:
- ÄVPS (ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung)
- Phobische Störung des Kindesalters
Die Bedeutung von Ängsten
An sich sind Ängste natürliche Schutzreaktionen auf reale Gefahren. Nehmen sie aber überhand, können sie sich auch gegen den Betroffenen richten. Dann folgt alsbald die Angst vor der Angst. Diese löst eine ständige Reaktionsbereitschaft aus, die auch körperliche Symptome mit sich bringt. Bei einer Generalisierung schwillt die Angst ständig auf und ab. Sie steigt an, wenn
- unbekanntes Terrain betreten wird
- der Betroffene sich in ihm unbekannten Situationen wiederfindet
- eine neue berufliche Herausforderung auf ihn wartet
- ein aus seiner Sicht risikoreiches Unterfangen ansteht
- er sein gewohntes Umfeld verlassen muss
- oder Dinge auf ihn zukommen, die schief gehen könnten.
Der einzige Auslöser, der allen geschilderten Angstsituationen geneinsam ist, ist der Unsicherheitsfaktor.
Welche Ursachen liegen generalisierter Angst zugrunde?
In den meisten Fällen entwickeln sich solche Störungen schleichend. Es ist nicht einmal gesagt, dass die Betroffenen besonders labil oder schon als Kind ängstlicher als andere gewesen sein müssen. Die eben genannten Dispositionen erhöhen lediglich die Chancen, dass es im Laufe des Lebens zu einer generalisierten Angststörung nach der Definition des ICD-10 kommen kann. Prinzipiell kann die Diagnose F 41.1 g jeden betreffen, der plötzlich in eine Situation mit starker psychischer Unsicherheit gerät.
Zu den bekannten Faktoren, die die Risiken für eine generalisierte Angststörung erhöhen können, gehören:
- ein ängstliches Wesen, das bereits angeboren ist
- Einflüsse aus dem unmittelbaren Umfeld (elterliche Erziehung, Einschüchterung, behütend-kontrollierender Erziehungsstil)
- kindliche Erlebnisse, die den Betroffenen stark verunsichert haben
- kindliche Ängste, die sich zu sehr verselbstständigt haben
- ein überhöhtes Sicherheitsbedürfnis
- unbekannte innerseelische Prozesse
- die individuelle Richtung der gedanklichen Vorstellungen
- die Wahrnehmung potentieller Gefahren als persönliches Risiken
- und die Entwicklung von gelegentlicher Besorgnis zu einer ängstlichen Grundhaltung.
Am Ende dieses schleichenden Prozesses steht eine innere Haltung, die überall Gefahren wittert. Solche Menschen können die Realität nicht mehr realistisch beurteilen. Sämtliche potenziellen Gefahren werden als persönliche Risiken angesehen und gefürchtet. Dabei sind die Chancen, dass solche Gefahren tatsächlich eintreten, meist verschwindend gering.
Das ICD-10 unterscheidet die generalisierte Angststörung anhand ihrer Besorgnisse und des daraus resultierenden Verhaltens von allen anderen Angststörungen und Phobien. Fakt ist aber, dass die Unterscheidung und Abgrenzung generalisierter Angststörungen oft gar nicht so einfach ist. Zusätzlich kann nämlich gleichzeitig
- eine soziale Phobie (siehe auch Angst vor sozialer Interaktion)
- die Neigung zu hypochondrischem Verhalten
- Meidungsverhalten aufgrund großer Ängstlichkeit
- bestimmte Zwangssymptome
- Panikattacken
- somatoforme Symptome
- oder depressive Verstimmungen
vorliegen. Dieses kann bereits im Vorfeld aufgefallen sein oder behandlungsbedürftig gewesen sein. Das wichtigste Kriterium, trotz gewisser Unsicherheitsfaktoren die Diagnose F41.1 zu stellen, ist, dass die Ängste wirklich alles und jedes betreffen und nicht einem konkreten Angstauslöser zuzuordnen sind. Falls diese Klarheit nicht besteht, kann gegebenenfalls die Diagnose einer gemischten Angststörung gemäß dem ICD-10 gestellt werden. Diese hätte die Kennziffer F41.3.
Generalisierte Angststörungen therapieren
Die Diagnose F41.1g erfolgt meist, weil der Betroffene einen großen Leidensdruck erlebt und sich Hilfe gesucht hat. Bei Kindern und Jugendlichen leiden vermutlich etwa 10 Prozent an frei flottierenden Ängsten. Hier sind es oft die Eltern, die sich an einen Therapeuten oder eine Beratungsstelle wenden. Es macht Sinn, an die Diagnosestellung eine Behandlung anzuschließen, um den Leidensdruck zu mindern. Dieser kann bereits mehrere Monate oder Jahre bestanden haben.
Es können sowohl psychotherapeutische Maßnahmen wie auch eine medikamentöse Begleitbehandlung vorgenommen werden. Als Medikamente kommen bei einer generalisierten Angststörung oft Antidepressiva zur Anwendung. Einige Off-Label eingesetzte Medikamente helfen laut medizinischer Praxiserfahrungen nachweislich auch gegen generalisierte Ängste.
Viele der genannten Medikamente wirken allerdings nicht sofort angstlösend. Sie müssen zum Teil eingeschlichen werden oder sich erst im Körper anreichern, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Zu beachten ist auch die Dauer der Medikamenteneinnahme. Manche der genannten Medikamente haben ein mehr oder minder hohes Abhängigkeitspotenzial. Das plötzliche Absetzen solcher Medikamente ist in der Regel nicht möglich (siehe unter anderem die Berichte zu Amisulprid absetzen, Amitriptylin absetzen, Doxepin absetzen, Opipramol absetzen usw.). Außerdem haben solche Medikamente oft starke Nebenwirkungen. Wegen der verzögerten Wirkung der Psychopharmaka ist eine gleichzeitig beginnende psychotherapeutische Behandlung meistens notwendig.
Die besten Behandlungserfolge werden mit einer Mischung aus tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen erzielt. Zum einen sollen die Betroffenen die Ursprünge ihrer entfesselten Ängste verstehen. Zum anderen müssen sie aber auch Strategien in die Hand bekommen, um diesen auf alles bezogenen Ängsten besser begegnen zu können (> Wie lange dauert eine Verhaltenstherapie?). Die Wahrnehmung der Realität und das Beenden des Gedankenkarussells, das diese potenziellen Risiken als unmittelbaren Gefahrenherd interpretiert, stehen im Vordergrund der Behandlung. Die Betroffenen müssen lernen, ihre Aufmerksamkeit vom destruktiven Denken hin zum aufmerksamen Beobachten dessen zu lenken, was tatsächlich geschieht – nämlich gar nichts Bedrohliches.
Indem der Patient lernt, dass Ängste eine normale Schutzreaktion sind, die Dimension seiner Ängste aber krankhaft ist, kann er nach und nach in eine normale Haltung zurückkehren. Damit verschwinden auch die körperlichen Folgeerscheinungen, die bei der Diagnose F 41.1 begleitend aufgetreten sind.
Zum Weiterlesen:
- Diagnose F41.0
- Autophobie
- Phobophobie
- Was tun gegen Platzangst?
- Was passiert in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie?
- Angst alleine Auto zu fahren
Quellen und weiterführende Ressourcen:
- youtube.com/watch?v=DgsnNqeRU_U
- seele-und-gesundheit.de/diagnosen/generalisierte-angststoerung.html
- www.icd-code.de/icd/code/F41.1.html
- youtube.com/watch?v=wBZnibTd7-Q
- ängste.info/diagnose-f41-1
- de.wikipedia.org/wiki/Generalisierte_Angstst%C3%B6rung
- dgvt-bv.de/news-details/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=3372&cHash=7b0e72314e513f6af7a375a62a58d5a1
- psychenet.de/de/psychische-gesundheit/informationen/generalisierte-angststoerung.html
- aerzteblatt.de/archiv/137451/Generalisierte-Angststoerung
- youtube.com/watch?v=vDD4RxbaxeY