Emotional abhängig? – Haben wir nicht alle Angst, von unserem Lebenspartner verlassen zu werden? Fällt es uns nicht unheimlich schwer, unsere Kinder gehen zu lassen, wenn sie erwachsen sind? Und hängen wir nicht selbst an unseren Eltern und fragen sie immer wieder um Rat, wenn wir längst eine eigene Familie haben? Wir fürchten uns davor, allein zu sein, von anderen durch Trennung oder Tod verlassen zu werden. Das ist völlig normal, solange wir uns nicht an einen Menschen klammern und uns dabei selbst aufgeben.
Was ist emotionale Abhängigkeit?
Der Mensch ist ein soziales Wesen und nicht fürs Alleinsein geschaffen. Er braucht andere zur psychischen und körperlichen Unterstützung und diese brauchen ihn. In der Psychologie wird eine gewisse Abhängigkeit in menschlichen Beziehungen als notwendig erachtet, denn dadurch wird die Bindung gefestigt. Doch wenn eine Person einseitig und übertrieben an ihrem Partner, ihren Eltern oder Kindern hängt und sich ohne sie wertlos fühlt, kann die emotionale Abhängigkeit krankhaft werden.
Eine emotionale Abhängigkeit zeichnet sich durch die Fixierung auf einen anderen Menschen aus. Die betroffene Person hat das Gefühl, ohne diesen nicht existieren zu können. Sie hat große Angst, von diesem verlassen zu werden. Außerhalb der Abhängigkeitsbeziehung pflegt diese Person meist wenig soziale Kontakte. Sie vernachlässigt ihre eigenen Interessen und schränkt ihre Autonomie bis zur Selbstaufgabe ein. Sie weiß jedoch nicht, wie sie sich aus der emotionalen Abhängigkeit lösen kann.
Häufig ist eine emotionale Abhängigkeit in einer Beziehung zu finden, die anfänglich auf Liebe basierte. Dabei sind Frauen und Männer etwa gleich oft betroffen. Die eine Person idealisiert die andere und braucht diese zur Kompensation der eigenen Unzulänglichkeiten. Nur mit dem Partner zusammen fühlt sich der Abhängige sicher und zweifelt weniger an sich selbst. Eine Abhängigkeit besteht meist in einer Partnerschaft zwischen Mann und Frau. Aber auch zwischen Mutter und Tochter oder Sohn ist sie häufig zu beobachten. Eine übertriebene Bindung zwischen dem Vater und seinen Kindern ist seltener.
Symptome der Problematik
Folgende Anzeichen können auf eine krankhafte Abhängigkeit eines Menschen hinweisen:
- einseitige und übertriebene Bindung an eine andere Person
- große Unsicherheit und Selbstzweifel
- Interessenverlust und Selbstaufgabe
- zwanghaftes Anklammern
- teilweiser Kontrollverlust über Gefühle und Verhalten
- Gedanke ans Verlassenwerden löst unverhältnismäßige Angst aus
- Auftreten von negativen Gefühlen wie Angst und Hilflosigkeit, wenn der Partner nicht da ist
- Abhängigkeit belastet die andere Person stark
Emotionale Abhängigkeit und ihre Ursachen
Eine emotionale Abhängigkeit entwickelt sich schleichend. Beim Abhängigen findet sich meist ein niedriges Selbstwertgefühl. Das Motiv fürs Anklammern an einen anderen Menschen ist rein egoistischer Natur, denn der Abhängige kommt alleine nicht klar und sucht jemanden, der für ihn sorgt und sein Selbstbewusstsein stärkt (siehe mangelndes Selbstbewusstsein). Durch seine Abhängigkeit gewinnt die betroffene Person auch Macht über den Partner und bestimmt dadurch gewisse Regeln in der Beziehung. Die Ehefrau, der Ehemann, der Sohn oder die Tochter muss Rücksicht nehmen auf diese und sich ihren Bedürfnissen anpassen.
Oft zeigen sich beim Betroffenen ähnliche Prozesse im Gehirn wie bei Süchtigen. Gerade bei einer neuen Liebe schüttet der Körper Botenstoffe aus, die anfänglich zu einem Glücksgefühl und zur Verkennung der Realität führen. Wenn der Abhängige dann von der vermeintlich großen Liebe verlassen wird, zeichnet sich sein Liebeskummer durch Entzugserscheinungen aus. Der Betroffene empfindet ähnlich negative Gefühle wie ein Depressiver. Bei einer emotional abhängigen Person können diese bereits beim Gedanken an ein Beziehungsende oder bei vorübergehender Trennung vom Partner auftreten (vgl. unseren Artikel zum Thema Trennungsschmerzen).
Oft wird eine Abhängigkeit von der Mutter oder dem Vater später auf den Freund oder die Freundin übertragen. Denn Erfahrungen in der Kindheit spielen eine Rolle für das zukünftige Verhalten eines Menschen. Meist entwickelt sich eine emotionale Abhängigkeit im Zusammenhang mit einer Persönlichkeitsstörung (vgl. Persönlichkeitsstörungen), welche ihre Ursachen in der Kindheit hat und sich bis ins Erwachsenenalter dann vollständig ausprägt. Auch genetische Faktoren können eine Rolle spielen.
Eine Persönlichkeitsstörung ist eine tief greifende psychische Störung, die nicht nur einzelne Aspekte einer Person betrifft, sondern den gesamten Menschen in seinem Denken, Fühlen, Verhalten und seiner Impulskontrolle andauernd beeinträchtigt. Seine Denk- und Verhaltensmuster weichen merklich von den Erwartungen des sozialen Umfeldes ab. Eine emotionale Abhängigkeit findet sich vor allem bei der Dependenten (siehe dependente Persönlichkeitsstörung) und der Borderline-Persönlichkeitsstörung (siehe Borderline Störung).
► Dependente Persönlichkeitsstörung
Eine Person mit einer Dependenten Persönlichkeitsstörung ist überzeugt davon, dass sie ihr Leben nicht selbstständig führen kann und andere zur Unterstützung braucht. Sie verhält sich passiv und verlässt sich bei wichtigen Entscheidungen auf andere. Diese Störung ist auch unter dem Namen Abhängige oder Asthenische Persönlichkeitsstörung bekannt. Folgende Symptome deuten auf diese hin:
- es wird ständig Hilfe von anderen gefordert
- eigene Wünsche werden denjenigen von anderen untergeordnet
- keine Äußerung von angemessenen eigenen Ansprüchen
- Vermeidung von Konflikten
- große Trennungsangst, Angst vor dem Alleinsein
- Gefühle von Hilflosigkeit und Unfähigkeit
- den Anforderungen des täglichen Lebens nicht gewachsen
- alleinige Entscheidungen können schlecht bis gar nicht getroffen werden
- Verantwortung wird auf andere abgeschoben (s.a. Angst vor Verantwortung)
Bei der Dependenten Persönlichkeitsstörung finden sich aber auch positive Züge wie eine hohe Fähigkeit zur Kooperation und ein gutes Einfühlungsvermögen.
► Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine komplexe Störung, bei der vor allem Probleme in der Emotionsregulation, dem Selbstbild, der sozialen Integration und der Impulskontrolle bestehen. Folgende Symptome sind typisch für eine Borderline-Störung:
- zwischenmenschliche Beziehungen sind intensiv, aber instabil
- Probleme der Nähe-Distanz-Regulation in einer Beziehung
- Angst vor dem Verlassenwerden
- verzerrte Selbstwahrnehmung, Identitätsstörung
- Denken in Kategorien
- Instabilität der persönlichen Präferenzen und Ziele
- impulsives Verhalten
- selbstschädigendes und suizidales Verhalten
- extreme Stimmungsschwankungen
- Leeregefühl
- unangemessen heftige Wut
- paranoide Vorstellungen (vgl. F60.0)
Borderliner haben oft ein völlig verzerrtes Bild von sich selbst und ihrer Umwelt. Auf diese Weise können sie sich schlecht an der Realität orientieren, was dazu führt, dass sie oft ein unangepasstes Verhalten zeigen. Für Borderliner scheint die Welt unberechenbar, weshalb sie oft Halt bei anderen Menschen suchen. Sie können sich einerseits stark an jemanden klammern, ertragen andererseits diese Nähe jedoch nicht und stoßen eine geliebte Person deswegen immer wieder vor den Kopf.
Psychotherapie: sich aus der emotionalen Abhängigkeit lösen
Damit der Patient sich aus der emotionalen Abhängigkeit lösen kann, müssen die zugrunde liegende psychische Störung und ihre Ursachen behandelt werden. Dies geschieht meist durch einen Psychotherapeuten (Arten von Psychotherapeuten). Anhand von Gesprächen und Tests erfährt dieser mehr über die psychischen Probleme seines Patienten. Die Therapie einer Persönlichkeitsstörung dauert meist recht lange, da verschiedene Aspekte der Person und zum Teil Erlebnisse aus der Kindheit angegangen werden. Oft fehlt die Einsicht des Patienten im Hinblick auf seine Störung oder er erachtet eine Behandlung als sinnlos. Gerade Borderliner sind bekannt für Therapieabbrüche, weil sie mit dem Therapeuten nicht klarkommen. Einerseits binden sie sich zu fest an ihn und andererseits unterziehen sie ihn Tests zu einer nicht existierenden Freundschaft.
Bei der Behandlung der Dependenten Persönlichkeitsstörung macht der Therapeut dem Patienten anhand von alltäglichen Beispielen klar, wie diese Partnerschaft aussieht. Der Patient muss lernen, seine Wünsche und Interessen zu benennen und die soziale Kompetenz trainieren. Dazu gibt der Therapeut ihm kleine Aufgaben. Besonders problematische Situationen werden in Rollenspielen nachgespielt. Der Betroffene übt einen neuen Umgang mit anderen Menschen und kann so seine Abhängigkeit langsam überwinden. Mit der Zeit sollte sich ein Gleichgewicht zwischen sozialer Anpassung und Unabhängigkeit herstellen.
Für die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung hat sich die Dialektisch Behaviorale Therapie als besonders wirksam erwiesen. Auch hier klärt der Psychotherapeut über das Störungsbild auf und verschiedene Verhaltensweisen werden analysiert. Dabei erstellen Therapeut und Patient zusammen eine Hierarchie, in welcher Reihenfolge die Probleme angegangen werden sollen. Meist beginnt die Therapie im Hier und Jetzt und geht erst später auf frühere traumatische Erfahrungen ein (siehe auch Posttrauma). Der Fokus liegt auf der Aufdeckung der verzerrten Bilder und einer damit einhergehenden Verhaltensänderung (vgl. Verhaltenstherapie). Dabei sind Beziehungsprobleme und Liebeskummer wichtige Themen.
Allgemein wird bei der Behandlung einer emotionalen Abhängigkeit das Selbstbewusstsein aufgebaut und es wird auf Unabhängigkeit und Eigenständigkeit hingearbeitet. Der Betroffene soll alleine Dinge unternehmen und neue Menschen kennenlernen. Ziel jeder Therapie ist es, die Abhängigkeit zu überwinden und die Abhängigkeitsbeziehung in eine Freundschaft umzuwandeln, bei der beide Personen gleichgestellt sind.
Video: Emotionale Abhängigkeit vom Partner
Ein Video zur Psychologie der emotionalen Abhängigkeit gibt es vom Transformationscoach Carsten Kehl.
Emotionale Abhängigkeit lösen – Bücher:
Quellen:
- https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/SUCHT/Beziehungssucht.shtml
- https://www.psychomeda.de/lexikon/emotionale-abhaengigkeit.html
- https://www.icd-code.de/icd/code/F60.-.html
- https://de.wikipedia.org/wiki/Pers%C3%B6nlichkeitsst%C3%B6rung
- Bohus, M. (2002). Borderline-Störung. Göttingen: Hogrefe.
- Fiedler, P. (2001). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Beltz.
- Herpetz, S.C.; Sass, H. (2003). Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart: Thieme.