Der Diagnoseschlüssel des ICD-10 ordnet bestimmte Erkrankungen einer Kennziffer zu. Diese Verschlüsselung wurde zum Schutz des Patienten eingerichtet. Allerdings kann jeder Arbeitgeber heutzutage die auf der Krankschreibung angegebene ICD-10-Kennzahl entschlüsseln. Dem Patienten wird vom Arzt hoffentlich erklärt, dass er an einer Agoraphobie erkrankt ist. Agoraphobie ist ein anderer Begriff für Platzangst. Diese psychische Erkrankung verbirgt sich hinter der Diagnose F40.0 laut ICD 10. Sie beschreibt eine konkrete Angst vor bestimmten Situationen.
F40.0 – Was ist eine Agoraphobie?
Wer eine Diagnose gemäß dem ICD-10 in Händen hält, kann unter Umständen auch mit dem Fachbegriff „Agoraphobie“ (Kennziffer F40.0) nicht viel anfangen. Er weiß jedoch aus leidvoller Erfahrung, welche Beschwerden, Einschränkungen und Ängste er in letzter Zeit erlebt hat. Möglicherweise hat der Betroffene diese Symptome schon mehrere Monate oder gar Jahre gehabt. Er hat sie aber vielleicht einer körperlichen Erkrankung zugeordnet. Daher kann es für einen unvorbereiteten Patienten ein Schock sein, wenn er hinter dem Diagnoseschlüssel F40.0 eine psychische Erkrankung erkennen muss.
Es handelt sich bei der Agoraphobie um eine Phobie, also eine krankhafte Angst. Genau gesagt, wird unter dem ICD-10-Schlüssel F40.0 gleich eine Gruppe von Angststörungen geführt. Typisch für diese Phobien ist, dass die Betroffenen panische Angst haben,
- das Haus oder die Wohnung zu verlassen
- einen vollen Hörsaal, ein Kaufhaus oder ein Ladengeschäft zu betreten
- in ein volles Kino zu gehen
- durch eine Menschenmenge zu gehen
- mit einem vollen Bus oder der U-Bahn zu fahren
- mit einem Charterflugzeug in Urlaub zu fliegen
- oder sich auf belebten öffentlichen Plätzen aufzuhalten.
Infolge der Phobie kommt es zunehmend zu Vermeidungsverhalten. Die Betroffenen umschiffen alle genannten – und in der Folge auch alle ähnlichen – Situationen. Sie ziehen sich wegen der selbst auferlegten Einschränkungen immer mehr zurück. Dabei werden auch lange bestehende soziale Kontakte zurückgefahren. Meist erfolgt der soziale Rückzug unter fadenscheinigen Ausreden.
Kaum werden alle angstauslösenden Situationen gemieden, fühlen sich die Betroffenen angstfreier. Problematisch sind bei der Diagnose F40.0 jedoch zwei Dinge. Zum einen können diese Menschen die angstauslösenden Situationen meist nicht dauerhaft meiden. Sie können unter anderem die berufliche Karriere behindern, wenn sie nicht aufgelöst werden können. Zum zweiten generalisiert die Angsterkrankung möglicherweise. Die Angst und das daraus folgende Vermeidungsverhalten erfassen immer mehr Situationen. Dann ist es jedoch keine Phobie mehr, sondern eine generalisierte Angsterkrankung. Diese wird im ICD-10 unter der Kennziffer F 41.1 geführt.
Agoraphobie: Mit oder ohne Panikattacken?
Die Diagnosestellung F 40.0 erfolgt oft erst nach einem längeren Leidensweg. Manchmal erfolgt sie mangels Hilfeersuchen des Betroffenen auch nie. In sehr seltenen Fällen erkennen die Betroffenen ihr Problem und können es aus eigener Kraft bewältigen.
Im ICD-10 werden solche phobischen Angststörungen jedoch noch weiter differenziert. Zu unterscheiden sind eine
- Agoraphobie ohne zusätzliche Panikstörung und eine
- Platzangst mit einer Panikstörung.
Während die Agoraphobie ohne Panikstörung im ICD-10 als „F40.0“ bezeichnet wird, müsste der Diagnose-Code bei einer Agoraphobie mit Panikstörung korrekt als „F40.01“ gekennzeichnet werden. Die Diagnose F40.0 wird nur gestellt, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Vgl. auch F41.0.
Zum einen müssen mindestens zwei der oben benannten Situationen angstbesetzt sein. Der Betroffene muss beispielsweise schon über längere Zeit volle Züge, gut besetzte Kinos oder Kaufhäuser gemieden haben. Er muss starke Angst vor dem Betreten verspürt haben. Er muss infolge seiner Angst vermieden haben, alleine zu reisen oder öffentliche Plätze am Urlaubsort zu betreten, wenn Menschenmengen zu sehen sind.
Zweitens muss der behandelnde Arzt erkennen, dass keine Wahnstörungen, keine Halluzinationen oder Schizophrenie-Anzeichen vorliegen. Der Betroffene darf zudem keine Zwangsstörung oder keine affektive Störung aufweisen. Außerdem wird bei der Diagnosestellung auch auf kulturelle Haltungen geachtet, die in verschiedenen Völkern zu unterschiedlichen Verhaltensweisen führen könnten. Im Fall der Agoraphobie (F40.0 im ICD-10) ist dieser Aspekt wahrscheinlich zu vernachlässigen.
Exkurs: Vernünftiges und krankhaftes Meidungsverhalten
Die Corona-Pandemie hat durch die notwendig gewordenen Abstandsregeln dazu geführt, dass auch gesunde Menschen volle Busse und Plätze gemieden haben. Das allein entspricht jedoch noch nicht der Diagnose F40.0. Immerhin gab es einen Shutdown und die Anweisung, Menschenmengen zu meiden. Die Diagnose F40.01 trifft auch dann nicht zu, wenn das bewusste Vermeiden solcher Plätze mit latenten Ängsten verbunden war, sich mit dem Covid-19-Virus zu infizieren.
Diese Ängste sind in der Regel normal. Sie sind zudem nur zu berechtigt, wenn man das Infektions-Geschehen und die Ansteckungswahrscheinlichkeit dieser weltweit grassierenden Virus-Erkrankung betrachtet. Solche Ängste und das daraus resultierende Vermeidungsverhalten führen nicht bei jedem Menschen dazu, eine Agoraphobie zu entwickeln. Es handelt sich vielmehr um allgemeine Vorsichtsmaßnahmen, die die Ansteckungsgefahr mindern sollen.
Es ist jedoch durchaus möglich, dass Corona-Virus-bedingtes Meidungsverhalten und daraus entstandene Ängste vor Ansteckung ein krankhaftes Ausmaß annehmen. Bei labilen Menschen kann eine Pandemie dafür sorgen, dass das gesunde Meidungsverhalten zum krankhaften Meidungsverhalten wird. In diesem Fall können auch entsprechende Ängste explodieren. Wenn diese beiden Symptome zu einer Phobie führen, ist die Diagnose F40.0 nach dem ICD-10 berechtigt. Der Unterschied zu den berechtigten Ängsten und dem sinnvollen Meidungsverhalten, das die Corona-Pandemie den Menschen aufgezwungen hat, liegt in folgenden Punkten: Bei der Agoraphobie
- werden auch potenziell ungefährliche Orte gemieden
- sind die Ängste übergroß
- lassen sich die Ängste trotz aller Beschwichtigungen und Erkenntnisse nicht kontrollieren
- liegen auch körperliche Symptome wie Herzrasen, Panikgefühle oder Schweißausbrüche vor
- kommt es zu einem selbst auferlegten sozialen Rückzug
- und liegen die Ängste schon mindestens schon ein halbes Jahr vor.
Vom Problem, gesunde und ungesunde Reaktionen zu unterscheiden
Schwierig wird es, inmitten der Corona-Pandemie vernünftige von irrationalen Ängsten zu unterscheiden. Relativ eindeutige Anzeichen für das Vorliegen einer Phobie sind körperliche Symptome wie Herzrasen, Hitzewallungen oder Schweißausbrüche, Anfälle von Zittern oder Panikgefühl, ein trockener Mund oder Atembeklemmungen, diffuse Schmerzen in Bauch- oder Thoraxbereich, sowie Übelkeit und Unwohlsein. Auf der Seite der Psyche kann es zu Schwindelgefühlen (siehe Angstschwindel), Schwäche oder Benommenheit, einem Gefühl der Unwirklichkeit (Derealisation) oder der eigenen Unwirklichkeit (Depersonalisation) kommen. Solche Indizien sprechen klar für eine Diagnose F40.0.
Während die Menschen bei einem Corona-bedingten Meidungsverhalten in der Regel das Gefühl haben, dass dieses Sinn macht und die Ansteckungsgefahr verringert, erkennen die Menschen bei einer Agoraphobie manchmal durchaus die Sinnlosigkeit ihres Verhaltens. Die Ängste, die die neue Corona-Pandemie begleiten, sind einem neuen Virus und einer Flut widersprüchlicher Nachrichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen geschuldet.
Menschen mit der Diagnose F40.0 haben aber Ängste, die nicht in einer realen Gefahrensituation begründet sind. Ein voller Bus hat an sich kein Gefahrenpotenzial – jedenfalls im Normalfall. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem dort ein Verrückter ein Messer in den Rücken sticht, ist statistisch gesehen klein. Zudem ist die panische Angst vor vollen Bussen auch nicht auf solche konkreten Gefahren ausgerichtet, sondern auf den vollen Bus und die damit verbundene drangvolle Enge.
Ohne eine fachkundige Behandlung wird sich die Diagnose F40.0 nicht ändern lassen. Doch mit der Diagnose F40.0 erhält der Betroffene auch die Möglichkeit, seinem Leiden durch eine Psychotherapie ein Ende zu setzen. Er hat offensichtlich aus eigenem Antrieb und wegen des gestiegenen Leidensdrucks Hilfe gesucht. Die kognitive Verhaltenstherapie verzeichnet bei der Behandlung von Agoraphobien gute Erfolge. Je nachdem, ob sich die Angst vor den genannten Situationen schlagartig oder schleichend eingestellt hat, kann die Behandlungsdauer kürzer oder länger ausfallen. Zwischen 10 und maximal 40 Sitzungen sollten genügen.
Diagnose F40 0 g > Quellen:
- https://de.wikipedia.org/wiki/Agoraphobie
- https://de.wikipedia.org/wiki/Angstst%C3%B6rung
- https://www.psychenet.de/de/psychische-gesundheit/informationen/panik-und-agoraphobie.html
- https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/wissen/agoraphobie-panikstoerung/hintergrund
- https://ängste.info/agoraphobie-icd-10
- https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/ratgeber-archiv/meldungen/article/agoraphobie-kann-bewegungsfreiheit-zunehmend-einschraenken/
- https://www.therapie.de/psyche/info/test/angst/agoraphobie/#_