Die Diagnose F44.2 – dissoziativer Stupor – findet sich in der ICD- 10 unter F44 Dissoziative Störungen, auch Konversionsstörungen genannt. Diese Störungen beziehen sich auf das
- Erinnerungsvermögen,
- das Bewusstsein der eigenen Identität,
- auf die Wahrnehmung von unmittelbaren Empfindungen und
- die Kontrolle der Körperbewegungen.
Wesentliches Merkmal für dissoziative Störungen ist, dass es keinen Zusammenhang zwischen einer körperlichen Erkrankung und den gezeigten Symptomen gibt, dass also keine organische Ursache vorliegt. Weiter ist für die Diagnose wichtig, dass es einen zeitlichen Zusammenhang geben muss zwischen dem Auftreten der Symptome und einem außergewöhnlich belastenden Ereignis.
Die verschiedenen Formen der Dissoziativen Störung kommen in unterschiedlicher Häufung vor. Der Dissoziative Stupor nach F44.2 ist hier mit etwa 0,1 Prozent vertreten, hat also nur geringe Relevanz. Die Dissoziative Amnesie kommt am häufigsten vor.
Überblick über die Merkmale beim Dissoziativen Stupor nach ICD-10 F44.2
Beim dissoziativen Stupor sind die Reaktionen auf äußere Reize wie Licht oder Geräusche – fast – nicht mehr vorhanden. Auch die willkürlichen Bewegungen sind beträchtlich verringert oder fehlen ganz. Das Sprechen ist eingeschränkt oder gänzlich ausgefallen. Dabei zeigen sowohl die normale Körperhaltung als auch Muskeltonus und Augenbewegungen an, dass der Patient bei Bewusstsein ist.
Für die Diagnose F44.2 müssen körperliche Ursachen ausgeschlossen und ein einschneidendes Erlebnis vorausgegangen sein. Dabei sollte ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Trauma und Symptombildung deutlich erkennbar sein.
Was bedeutet Stupor im medizinischen Sinn?
Der Begriff Stupor kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚Erstarrung‘. In der Medizin wird der Stupor als Zustand der psychischen und motorischen Erstarrung bezeichnet. Der Betroffene verharrt dabei regungslos mit zum Teil angespannter Muskulatur. Dabei lassen seine Haltung, seine Muskelaktivitäten und seine Augenbewegungen darauf schließen, dass er eindeutig wach ist. Trotzdem reagiert er kaum auf äußere Reize und verhält sich völlig teilnahmslos.
Allerdings scheint sicher, dass der Betroffene die Vorgänge in der Umgebung besonders empfindlich wahrnehmen kann. Es ist ihm bei der F44.2 aber nicht möglich, sich daran zu beteiligen. Er kann weder den Kopf wenden noch den Blick auf Menschen richten, die auf ihn zukommen. Auch auf Berührungen reagiert er nicht.
Eine Kommunikation ist in dieser Phase schwer möglich. Der Patient ist in seiner sprachlichen Ausdrucksmöglichkeit stark eingeschränkt oder völlig verstummt (netdoktor.de/symptome/stupor/).
Ursachen der Dissoziativen Störung einschließlich Stupor
Da dem Stupor wie allen dissoziativen Störungen ein erheblich belastendes Ereignis vorangegangen ist, kann die Symptombildung ein Versuch der Psyche sein, diese Belastung durch Abwehr zu verdrängen. So jedenfalls sehen es die Psychoanalytiker.
Verhaltenstherapeuten gehen von mehreren Faktoren aus. Bestimmte Menschen scheinen dabei eher anfällig zu sein für die Ausbildung von dissoziativen Merkmalen. Sie haben eine genetische Disposition, sind leichter zu beeinflussen und haben eventuell früher bereits traumatisierende Ereignisse erlebt. Mit den Dissoziationen macht sich der Betroffenen seine Traumata erträglich. Kommt es auch weiterhin zu belastenden Situationen, so wird er wieder auf diesen Mechanismus zurückgreifen, wobei die Gefahr besteht, dass die Symptomatik chronisch wird.
Obwohl die Ursachen für F44.2 / den Dissoziativen Stupor noch nicht hinreichend geklärt sind, ist gerade hier deutlich zu erkennen, dass die Symptome einem Totstellreflex gleichen. Sich tot zu stellen ist eine Überlebensstrategie für Tiere, die keinen anderen Ausweg mehr haben. So ähnlich könnten auch Stupor-Patienten vorgehen, die in ihrer Symptomatik eine letzte Strategie gegen unheilvolle Ereignisse sehen (aerzteblatt.de/archiv/43054/…).
Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen
Vom Stupor Betroffenen leiden häufig auch an anderen psychischen Erkrankungen. Hier besteht eine hohe Komorbidität mit der Depression, mit sonstigen Persönlichkeitsstörungen, mit Angststörungen und mit verschiedenen somatoformen Störungen.
Differentialdiagnose – Was muss vorab geklärt werden?
Vor der Diagnose F44.2 muss eine Reihe anderer sowohl psychischer als auch körperlicher Erkrankungen ausgeschlossen werden.
- Ähnliche Symptome zeigen depressiver und katatoner Stupor. Der depressive Stupor entwickelt sich langsamer und tritt in Zusammenhang mit schweren depressiven Erkrankungen auf. Den katatonen Stupor findet man bei schizophrenen Psychosen. Hier ist die Muskelspannung deutlich erhöht und Körperhaltungen werden überdurchschnittlich lange beibehalten.
- Zum manischen Stupor kommt es während einer manischen Phase bei bipolaren affektiven Störungen. Der Betroffene ist in fröhlicher Stimmung, jedoch sind seine Bewegungen, sein Denken und Sprechen gehemmt.
- Der organische Stupor kann bei Hirnhautentzündung, bei Tumoren und bei Demenz vorliegen.
- Nicht zuletzt muss ein durch Medikamente oder andere Substanzen hervorgerufener, sogenannter toxisch bedingter Stupor, ausgeschlossen werden.
F44.2 Diagnose
Für die Diagnosestellung stehen verschiedene diagnostische Instrumente zur Verfügung, mit denen zum einen Auftreten und Schweregrad der Symptome festgestellt werden kann. Zum anderen können auch die akuten Symptome und die ‚umgrenzten‘ Zeiträume erfasst werden.
Diversen Fragebögen geben weiteren Aufschluss über die Erkrankung. Beim Dissoziativen Stupor werden durch die mangelnden kommunikativen Möglichkeiten des Patienten Angehörige verstärkt in die Befragung einbezogen.
F44.2 Therapie
Zur Behandlung aller dissoziativen Störungen bietet sich die Psychotherapie in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung an. Erfolgversprechend sind auch zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten wie Bewegungs-, Musik- und Kunsttherapien. Dabei werden therapeutische Maßnahmen auf die jeweilige Störung zugeschnitten.
Da der Dissoziative Stupor durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst wurde, steht die Bewältigung der auf das Trauma bezogenen Symptome im Vordergrund. So ähnlich wird auch bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen vorgegangen.
Die Therapie setzt sich aus drei Phasen zusammen.
- In der Stabilisierungsphase wird zunächst versucht, die Symptome zu reduzieren, um eine gewisse Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Das kann durch Entspannungstechniken und psychopharmakologische Mittel geschehen. Ein weiterer Schritt ist, Vertrauen aufzubauen. Das wird durch vorsichtiges Annähern und ebenso vorsichtige Berührungen eingeleitet. Direkter Kontakt und ständiges Ansprechen kann einen Kommunikationsweg zum Patienten öffnen.
- Die nächste und wesentliche Phase, die Expositionsphase, hat das traumatische Ereignis selbst zum Gegenstand. Dieses wird vorsichtig und Schritt für Schritt erfragt. Ziel ist die Bewusstmachung oder – besser gesagt – die Wiederbewusstmachung dieses Traumas.
- Abschließend wird in der Integrations- und Neuorientierungsphase weiter mit den traumatischen Erfahrungen gearbeitet; gleichzeitig lernt der Patient, sein Leben wieder allein zu bewältigen und seine Erfahrungen in den Alltag zu integrieren. (therapie.de/psyche/info/index/diagnose/dissoziative-stoerungen/behandlung-mit-psychotherapie/)
Videos auf YouTube
Kurz aber prägnant erklärt der Heilpraktiker für Psychotherapie Lukas Rick die wesentlichen Merkmale von Dissoziativen Störungen.
Dissoziation als Kunstgriff der Seele – so nennt sich ein Video der Seelsorge-Therapie und bringt damit zum Ausdruck, dass durchaus ein Sinn hinter diesem Krankheitsgeschehen stecken könnte.