Nach der Klassifikation von Erkrankungen ICD-10 wird bei Kindern und Jugendlichen zwischen 4 Angststörungen unterschieden:
- emotionale Störung mit Trennungsängsten,
- phobische Störung des Kindesalters,
- Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter,
- generalisierte Angststörung im Kindesalter.
Generell gelten die Ängste dann als behandlungsbedürftig, wenn sie
- nicht altersgemäß, unrealistisch und übertrieben sind und
- mindestens 4 Wochen (bei der generalisierten Angststörung 6 Monate) anhalten und
- zu einer deutlichen Beeinträchtigung führen und die normale Entwicklung des Kindes gefährden.
Emotionale Störung mit Trennungsängsten
Die Kinder zeigen über das 3. Lebensjahr hinaus, jedoch vor Erreichen des 6. Lebensjahrs, eine außergewöhnliche Angst vor der Trennung von einer wichtigen Bezugsperson oder befürchten, es könne ihr etwas zustoßen, was langfristig zu einer Beeinträchtigung der sozialen Funktionen führen kann. Folgende Symptome sind typisch:
- unrealistische Sorge, dass einer wichtigen Bezugsperson etwas zustoßen oder diese verunglücken könnte,
- Verweigerung des Schulbesuchs (vgl. Angst vor der Schule),
- Weigerung, alleine ins Bett zu gehen,
- häufiges Aufstehen nachts, um die Anwesenheit der Bezugsperson zu überprüfen,
- Weigerung, auswärts zu schlafen,
- Weigerung, alleine zuhause zu bleiben,
- Alpträume zu Trennungsthemen,
- körperliche Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit, Schwindel, Herzrasen (insbesondere in Trennungssituationen),
- Schreien, Wut, Apathie,
- sozialer Rückzug (vgl. soziale Isolation).
Das Vollbild der emotionalen Störung mit Trennungsängsten ist dann anzunehmen, wenn mindestens 3 der vorgenannten Symptome vorliegen. Die Beeinträchtigung der sozialen Entwicklung entsteht dadurch, dass die Kinder ausgeprägte Schwierigkeiten haben, ihren normalen täglichen Aktivitäten nachzukommen, reguläre Schlafgewohnheiten zu entwickeln und zur Schule zu gehen.
Phobische Störung des Kindesalters
Wie bei den Erwachsenen-Phobien verspüren die Kinder Angst ausschließlich oder überwiegend durch eindeutig definierte, im allgemeinen ungefährliche Situationen oder Objekte, die entweder gemieden oder nur mit Unbehagen bis hin zur Panik ertragen werden können. Begleitende körperliche Symptome sind Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Atembeschwerden, Beklemmungs- und Schwindelgefühle. Auch Kinder können in diesen Situationen zusätzliche massive Ängste entwickeln wie die Angst zu sterben, die Kontrolle zu verlieren oder wahnsinnig zu werden.
Im Kindesalter sind die definierten Situationen oder Objekte, vor denen eine gesteigerte Angst besteht, alterstypisch und entsprechen der jeweiligen Entwicklungsphase. Das bedeutet, sie werden von der Mehrheit der Kinder gleichen Alters als beängstigend erlebt wie z. B. Gewitter, Dunkelheit, Märchengestalten (Hexen, Gespenster), laute Geräusche und Tiere.
Können die Kinder dem angstbesetzten Stimulus durch Weglaufen nicht ausweichen, reagieren sie mit Schreien, Weinen oder Anklammern. Bei der phobischen Störung des Kindesalters ist die Angst übermäßig ausgeprägt und reicht über die altersspezifische Phase hinaus, was zu einer deutlichen sozialen Beeinträchtigung führen kann.
Zu den phobischen Störungen des Kindesalters gehört auch die Agoraphobie, die somit keinesfalls auf das Erwachsenenalter beschränkt ist (vgl. Agoraphobien). Sie kann dazu führen, dass die Kinder kaum noch das Haus verlassen können oder Probleme haben, ein Geschäft zu betreten, sich in eine Menschenmenge oder auf öffentliche Plätze zu begeben oder alleine öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Wie Erwachsene, die von einer Agoraphobie betroffen sind, führt die Angst auch bei Kindern dazu, sich sofort einen sicheren Platz zu suchen und nach Hause zurückzuziehen. Zusätzliche Ängste, wie in Ohnmacht zu fallen und hilflos liegen zu bleiben, können Panik erzeugen. Die soziale Beeinträchtigung kann schließlich so weit gehen, dass sich die Kinder konsequent weigern, ohne Begleitung das Haus zu verlassen.
Soziale Phobien können bei Kindern ebenfalls vorkommen, indem sie Angst bei harmloser Beobachtung durch andere Menschen verspüren. Wie bei den Erwachsenen steht dahinter die Furcht, ein Verhalten zu zeigen, mit dem sie sich blamieren oder bloßstellen könnten, weil die betroffenen Kinder glauben, sich ängstlich, dumm, schwach oder wie auch immer auffallend zu benehmen. Die Angst ist meist auf bestimmte Situationen begrenzt wie Essen, Sprechen oder Schreiben in der Öffentlichkeit oder auch nur darauf, sich mit anderen zu unterhalten. Kann der Situation nicht ausgewichen werden, wird jeglicher Blickkontakt vermieden. Typische Symptome können Erröten, Übelkeit und ein Drang zum Wasserlassen sein. Auch Kinder können ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten entwickeln, das sich auf zahlreiche soziale Situation ausdehnt, sodass eine vollständige soziale Isolierung die Folge sein kann.
Spezifische, isolierte Phobien beziehen sich auch bei Kindern auf umschriebene Objekte oder Situationen wie Höhe, Dunkelheit, geschlossene Räume, Flugreisen oder Tiere. Siehe auch Aichmophobie. Viele Situationen können vom altersspezifischen Entwicklungsstand abhängen und z.B. beim ersten Zahnarztbesuch oder der ersten Flugreise zur Panik führen. Das Ausmaß der sozialen Beeinträchtigung hängt vom Vermeidungsverhalten ab. Kann die Situation einfach vermieden werden, wie z.B. durch Verzicht auf Flugreisen, kann die spezifische Phobie jahrzehntelang bestehen bleiben.
Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter
Die betroffenen Kinder zeigen eine Furcht vor fremden oder wenig vertrauten Personen, die altersunangemessen ist und dazu führt, dass die Kinder versuchen, den Personen aus dem Weg zu gehen. Interessanterweise fürchten sie sich dabei nicht nur vor Erwachsenen, sondern auch vor gleichaltrigen Kindern. Die Störung entwickelt sich vor dem 6. Lebensjahr und darf nicht mit der Fremdenangst zwischen dem 8. und 12. Lebensmonat verwechselt werden, die eine normale, vorübergehende Angstphase in der kindlichen Entwicklung darstellt. Die soziale Ängstlichkeit im Kindesalter äußert sich, indem die Kinder eine übertriebene Sorge zeigen, ob ihr Verhalten gegenüber fremden Personen angemessen ist, was zu Befangenheit oder Verlegenheit führen kann. Auf die Begegnung mit Fremden reagieren sie mit Weinen, dem Fehlen von spontanen Äußerungen oder Rückzug aus der Situation. Zu vertrauten Personen pflegen sie in der Regel gute soziale Beziehungen und Bindungen.
Generalisierte Angststörung im Kindesalter
Bei der generalisierten Angststörung im Kindesalter beschränkt sich die intensive und übermäßige Angst nicht auf bestimmte Situationen oder Objekte, sondern flotiert frei, wie das auch bei der generalisierten Angststörung im Erwachsenenalter der Fall ist. Die Kinder empfinden intensive Ängste und Sorgen über Alltagsdinge im Sinne einer ängstlichen Erwartungshaltung, dass irgendetwas Schlimmes passieren könne oder dass sie den Anforderungen des Alltags nicht gerecht werden. Die Ängste kreisen um alltägliche Ereignisse, Probleme in der Schule, Familie, freundschaftliche Beziehungen oder Berufsausbildung. Generalisierte Angststörungen können mit folgenden Symptomen verbunden sein:
- Befürchtungen über künftiges Unglück, Konzentrationsschwierigkeiten und Nervosität,
- Anspannung in Form von Muskelverspannungen, akuten oder chronischen Schmerzen, körperlicher Unruhe (vgl. innerliche Unruhe), Zittern, Unfähigkeit zur Entspannung, Schlafstörungen und Reizbarkeit,
- vegetative Überregbarkeit in Form von Herzrasen, schnellem Atmen, Schwitzen, Schwindel, Mundtrockenheit, Benommenheit, Oberbauchbeschwerden (vgl. vegetatives Nervensystem beruhigen).
Die Diagnose einer generalisierten Störung des Kindesalters setzt voraus, dass Angstgefühle und Symptome mindestens über einen Zeitraum von 6 Monaten bestehen, nahezu täglich auftreten und sich vor dem 18. Lebensjahr entwickeln.
Folgen unbehandelter Angststörungen im Kindes- und Jugendalter
Angststörungen des Kindes- und Jugendalters sind nicht nur häufig und treten in vielen Fällen kombiniert mit anderen psychischen Erkrankungen auf, sondern sind auch ein wesentlicher Motor für die Entwicklung psychischer Störungen im Erwachsenenalter. Studien zufolge führen unbehandelte Angststörungen im Kindesalter häufig zu Angsterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen (siehe Persönlichkeitsstörung) und auch Substanzabhängigkeiten im Erwachsenenalter (Sucht). Insbesondere die emotionale Störung mit Trennungsangst im Kindesalter ist mit einem hohen Risiko verbunden, als Erwachsener verschiedene psychische Erkrankungen zu entwickeln. Dabei führt die Trennungsangst nicht nur zur Entwicklung von Angsterkrankungen im Erwachsenenalter (insbesondere Panikstörungen), sondern kann auch zu Psychosen, chronischen Schmerzerkrankungen und Alkoholabhängigkeit führen. Angststörungen des Kindes- und Jugendalters sind somit keinesfalls harmlose Unpässlichkeiten, die sich nach der Pubertät von alleine erledigen. Vielmehr sind sie ernst zu nehmen und bedürfen bereits im Kindesalter einer effizienten Behandlung.
Diagnostik von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen
Die Erfassung von Angstsymptomen, ihres Schweregrades, ihrer Dauer und den mit ihnen verbundenen psychosozialen Problemen bei Kindern und Jugendlichen setzt voraus, dass die Erhebung dem Alter entsprechend durchgeführt werden muss und unterscheidet sich daher wesentlich von der Diagnostik einer Angststörung bei Erwachsenen.
Für die Diagnostik im Kindesalter werden Gespräche, aber auch Verhaltensbeobachtungen, Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren eingesetzt. Im Gegensatz zu Diagnostik von Angststörungen bei Erwachsenen finden somit nicht ausschließlich Befragungen mit dem Kind oder Jugendlichen statt, sondern auch mit den Eltern und ggf. weiteren Bezugspersonen. Dabei muss beachtet werden, dass Kinder über die verschiedenen Entwicklungsphasen eine Reihe von Ängsten zeigen, die nahezu bei allen Kindern zu finden und für diese Altersklassen als normal zu betrachten sind. Dazu gehört z.B. die Angst vor Dunkelheit im Kleinkindesalter. Bei der Beurteilung, ob eine Angststörung oder Phobie vorliegt, muss daher immer beurteilt werden, inwieweit die Angst des betroffenen Kindes noch altersgemäß oder bereits übermäßig ist.
Es mag überraschen, dass sich Kinder und Eltern in ihren Angaben zur Art und Häufigkeit von Angstsymptomen beim Kind nicht selten stark unterscheiden. Besondere Diskrepanzen ergeben sich bei der Befragung von Eltern und Kindern über die innere Befindlichkeit des Kindes. Mit anderen Worten: Eltern sind sich oft nicht darüber im Klaren, wie sehr ihr Kind unter seiner Angsterkrankung leidet. Bei Angststörungen und Phobien im Kindesalter werden daher nahezu immer mehrere Informationsquellen und diagnostische Methoden miteinander kombiniert.
Die Diagnostik von Angststörungen im Kindesalter erfolgt für gewöhnlich in Form von Interviews (Gesprächen) und standardisierten Fragebögen:
- Damit der Therapeut einen ersten Überblick über die psychischen Beschwerden des Kindes erhalten kann, erfolgt zunächst ein Gespräch mit Eltern und Kind.
- Zur genaueren Analyse der Problematik von Angst, Phobien und Angststörungen bei Kindern werden verschiedene Selbstbeurteilungsverfahren anhand von Fragebögen durchgeführt. Hierzu existiert eine ganze Reihe von Fragebögen, mit denen gezielt in Richtung Trennungsangst, Panik, sozialer Phobie, generalisierter Angststörung oder Schulangst ermittelt werden kann. Fragebögen existieren nicht nur für die Eltern, sondern ab einem gewissen Alter auch für die betroffenen Kinder (ab dem 8. Lebensjahr).
- Nicht ungewöhnlich ist auch das Einbeziehen z. B. von Erziehern oder Lehrkräften, die ebenfalls anhand von Fragebögen Auskünfte über Verhaltenshemmung oder sozialer Ängstlichkeit des Kindes geben können (Fremdbeurteilungsverfahren).
- Bei älteren Kindern können auch Tagebücher zur Erfassung der individuellen Angstsymptomatik, der Häufigkeit von Symptomen und des Verhaltens in Angstsituationen hilfreich sein (vgl. Symptome Angststörung). Derartige Tagebücher fördern nicht selten Erstaunliches über den elterlichen Erziehungsstil zutage sowie über eine evtl. angstfördernde Atmosphäre, die innerhalb einer Familie herrschen kann.
- Zu einer soliden Abklärung der kindlichen Angstproblematik gehört auch der Ausschluss organischer Ursachen. So kann beispielsweise auch bei Kindern durchaus eine Schilddrüsenerkrankung vorliegen, die zu körperlichen Angstsymptomen wie Herzrasen, Zittern und Schwitzen führt.
- Intelligenztests sind bei der Abklärung einer Angstsymptomatik nicht zwingend notwendig. Sie können jedoch herangezogen werden, wenn sich Hinweise auf Entwicklungsverzögerungen ergeben oder schulische Leistungsprobleme vorliegen.