Paruresis - die Schwierigkeit, in der Öffentlichkeit zu pinkeln (© Kzenon / Fotolia)

Paruresis und die schüchterne Blase

Tabuthema Paruresis

Manchen Menschen ist es unangenehm, in öffentlichen Toiletten die Blase zu entleeren, sie fühlen sich blockiert, wenn sie das Gefühl haben, beim Urinieren von anderen gesehen oder gehört werden. Deshalb benutzen sie ungern öffentliche Toiletten, weil man dort nie allein ist.

Die medizinische Fachsprache bezeichnet diese Problem als Paruresis oder shy bladder syndrome im Deutschen „schüchterne Blase“. Dieser Begriff sagt schon aus, dass es sich eher um ein psychologisches Problem handelt.

Die Paruresis gehört zu den sozialen Phobien. Fachleute wissen, dass viele Menschen Probleme damit haben, in Gegenwart von anderen Menschen die Blase zu entleeren. Das Problem kommt bei Frauen und Männern vor, Männer sind aber häufiger betroffen. Sie können dann oft kein Pissoir benutzen, weil sie dabei von anderen Männern während des Urinierens gesehen werden.

Ursachen für das „Problem mit dem Pinkeln“

Die Hauptursache einer Paruresis liegt in der Angst, von anderen Menschen während der Blasenentleerung beobachtet oder belauscht werden zu können. Diese Angst hat meistens zwei Hintergründe (siehe auch: Entstehung von Angst und Ursachen von Angststörungen).

  • Es kann in der Vergangenheit ein Toilettenerlebnis gegeben haben, das mit Angst und Scham verbunden war, z. B. wenn man beim Toilettengang bedroht oder ausgelacht wurde.
  • Wenn dann irgendwann erneut eine ähnliche Situation auftritt, entsteht eine Erwartungsangst, dass es wieder nicht möglich ist, die Blase zu entleeren. Durch die Erwartungsangst entsteht ein psychischer Druck, der erst recht dazu führt, dass Betroffene ständig anfangen zu grübeln, ob es ihnen gelingt, auf öffentlichen Toiletten zu urinieren, ob andere Menschen es mitbekommen, dass sie Schwierigkeiten haben und ungewöhnlich lange brauchen. Oder sie fühlen sich unter Druck, weil in öffentlichen Toiletten auch andere warten, um die Toilette benutzen zu können, und fühlen sich dann unter Zeitdruck, der die Blasenentleerung blockieren kann.

In schlimmeren Fällen müssen Betroffene trotz Harndrangs die Toilette wieder verlassen, weil nichts mehr geht. Bei manchen Menschen kann sich daraus eine soziale Phobie entwickeln, die dazu führt, dass öffentliche Toiletten generell gemieden werden.

Besonders betroffen sind häufig Menschen, die zu einer stärkeren Selbstbeobachtung neigen und sich innerlich unter Druck setzen, alles richtig machen zu wollen.

Paruresis - nicht lospinkeln können, wenn andere dabei sind oder reinkommen könnten (© Maksym Yemelyanov / Fotolia)
Paruresis – nicht lospinkeln können, wenn andere dabei sind oder reinkommen könnten (© Maksym Yemelyanov / Fotolia)

Charakteristische Symptome einer Paruresis bzw. paruretischen Störung

Eine Paruresis gehört zu den sozialen Angststörungen. Es gibt sie in unterschiedlichen Abstufungen.

  • In leichten Fällen brauchen Menschen, die unter dieser Angst leiden, nur etwas länger als andere, um Wasser lassen zu können.
  • In schwereren Fällen ist es selbst bei großem Harndrang nicht mehr möglich, die Blase zu entleeren, sobald andere Menschen in der Nähe sind. Das Problem ist mit abhängig von den Situationen, in denen es auftritt. Bei Männern kann es sich so äußern, dass sie nur in Gegenwart anderer Männer nicht am Pissoir die Blase entleeren können, aber kein Problem in abschließbaren Toilettenkabinen haben.
  • Menschen mit extremer Ausprägung einer Paruresis können oft nur noch zu Hause in den eigenen vier Wänden die Blase entleeren und richten ihr ganzes Leben so ein, dass sie möglichst Situationen umgehen, in denen sie nicht allein Wasser lassen können. Das kann dazu führen, dass sie öffentliche Lokale oder Restaurants meiden, einen Arbeitsplatz in der Nähe der Wohnung suchen, um für den Toilettengang nach Hause gehen zu können und Urlaubsreisen oder andere Unternehmungen vermeiden. Dieses Vermeidungsverhalten kann Selbstzweifel bis hin zu Depressionen (siehe Depression) begünstigen und zu einer sozialer Isolation führen.

Diagnose durch Urulogen und Psychotherapeuten

Da Betroffene sich meistens schwer tun, über ihr Problem zu reden, baut sich in der Regel über einen langen Zeitraum ein Leidensdruck auf, bevor sie sich Hilfe suchen. Hinzu kommt, dass das Problem, obwohl in Fachkreisen bekannt, noch nicht hinreichend erforscht ist.

Erst seit den 80er Jahren wird eine Paruresis überhaupt als behandlungsbedürftige Erkrankung eingestuft. Über einen längeren Zeitraum gab es auch keine festen diagnostischen Kriterien und variierende Angaben darüber, in welcher Häufigkeit das Problem überhaupt existiert. Dabei ist sie eigentlich gut behandelbar.

Erst seit 2001 konnte durch Fragebögen der Universität Düsseldorf ermittelt werden, dass etwa 3 % betroffen sind und dass aufgrund der Beschwerden vorwiegend Männer ärztliche Hilfe suchen.

Urologen versuchen, bevor sie die Diagnose Paruresis stellen, zunächst mögliche körperliche Gründe für Blasenentleerungsstörungen auszuschließen, weil auch Prostata- und Harnwegserkrankungen verantwortlich sein können, dass trotz Harndrangs Probleme beim Wasserlassen auftreten.

Wenn keine körperlichen Ursachen gefunden werden können, ist das Schlüsselsymptom für die Diagnose Paruresis das Vermeidungsverhalten der Betroffenen, dass durch den standardisierten Fragebogen ermittelt werden kann. Eine Paruresis ist immer dann behandlungsbedürftig, wenn Betroffene stark unter den Auswirkungen dieser Phobie leiden und ihre Lebensqualität darunter leidet.

Nicht urinieren können - Angst vor Wasserlassen in öffentlichen Toiletten? (© Teteline / Fotolia)
Nicht urinieren können – Angst vor Wasserlassen in öffentlichen Toiletten? (© Teteline / Fotolia)

Behandlungsmöglichkeiten / Therapie-Ansätze

Eine erfolgreiche Therapie der Paruresis beginnt meistens mit einer Selbsterforschung der Situationen zur Selbsthilfe. Wenn das Urinieren in abschließbaren Toiletten möglich ist, muss man im Prinzip gar nichts unternehmen, sondern kann diese als Alternative wählen. Es ist ja legitim, wenn man nicht in aller Öffentlichkeit Wasser lassen möchte. Nicht jeder Mensch mag das.

Wenn die Blasenentleerung in öffentlichen Toiletten aber derart in Stress ausartet, dass man keine öffentlichen Toiletten mehr benutzen kann, z. B. am Arbeitsplatz, kann man es zunächst mit einem Paruresis Selbsthilfe-Programm versuchen. – Wer weiß, in welchen Situationen das Wasserlassen schwierig ist, kann die Unterstützung einer vertrauten Person suchen, um das Wasserlassen in Gegenwart von anderen Personen zu üben. Manche Betroffenen haben Probleme mit dem Benutzen von Toiletten am Arbeitsplatz, weil sie befürchten, dass jeden Moment Kollegen hereinkommen könnten, manche tun sich schwer mit den Geräuschen, die die Blasenentleerung verursacht und die von anderen wahrgenommen werden könnten. Sie fühlen sich unter Beobachtung und verkrampfen dadurch.

Paruresis Selbsthilfe?

Eine leichte Übung zur Selbsthilfe ist die Unterbrechnung des Harnstrahls durch Anspannung des Muskels für ca. 3 bis 5 Sekunden. Dazu sollte die Blase gut gefüllt sein, damit Harndrang vorhanden ist. In einem weiteren Schritt sucht man öffentliche Toiletten auf, wenn möglich in Gegenwart der vertrauten Person, um eine Art Konfrontationstherapie durchzuführen (siehe auch: Konfrontationstherapie in der Angst-Behandlung). Betroffene Männer können oft in abschließbaren Toilettenkabinen urinieren, aber nicht am Pissoir. Um das zu trainieren, kann versucht werden, bei leicht geöffneter Toilettentür in Gegenwart der Vertrauensperson die Blase zu entleeren. Ist das möglich, wird dabei auch wieder der Urinstrahl unterbrochen. Die Übung kann an weiteren Orten versucht werden, damit eine gewisse Gewöhnung eintritt. Im Fortlauf der Übungen sollen Betroffene allein üben, was nicht von heute auf morgen klappen wird und einiges an Überwindung abverlangt. In leichteren Fällen kann diese Selbsthilfe sehr wirksam sein und die Scheu vor öffentlichen Toiletten nehmen.

Paruresis Tricks und Anregungen zur Selbsthilfe bietet der Ratgeber des Diplom-Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten Dr. Philipp Hammelstein „Lass es laufen – Ein Leitfaden zur Überwindung der Paruresis“ (2005, Amazon).

Patienten-Selbsthilfe-Buch: "Lass es laufen! - Ein Leitfaden zur Überwindung der Paruresis" (Philipp Hammelstein, Amazon)
Patienten-Selbsthilfe-Buch: „Lass es laufen! – Ein Leitfaden zur Überwindung der Paruresis“ (Philipp Hammelstein, Amazon)

Paruresis Behandlung durch Psychotherapie

Wenn die Paruresis so stark ist, dass Betroffene schon öffentliche Toiletten meiden und fast nur noch zu Hause die Blase entleeren können, sollte eine Paruresis behandelt werden. Eine Therapie mit Medikamenten ist nicht möglich, die sinnvollste und Erfolg versprechende Methode ist eine kognitive Verhaltenstherapie (Psychotherapie) aus mehreren Bestandteilen:

Schrittweise Annäherung an die angstauslösende Situation

Dazu erstellt der Klient erst einmal eine Liste mit möglichen Auslösern für die Blockade. Anschließend werden diese Stresssituationen mit Hilfe des Therapeuten geübt von einfachen bis schwierigen Situationen. Es sollte so viel getrunken werden, dass Harndrang vorhanden ist.

Kognitive Behandlungsansätze durch Umdeutung

In diesem Teil der Therapie sollen Betroffene lernen, die negative Beurteilung der Stresssituation zu verändern. Der Stress entsteht häufig dadurch, dass man sich Gedanken darüber macht, was andere Menschen über die Dauer des Toilettenganges denken könnten. Wenn man eine innere Gelassenheit entwickelt (vgl. gelassen bleiben), ist es nicht mehr so wichtig, was andere denken, und der innere Druck lässt nach. Dazu ist es wichtig, sich die störenden Gedanken bewusst zu machen.

Das Arbeiten an eigenen Einstellungen wie „Ich kann pinkeln, wie ich will“, „Ich mag es einfach lieber privat beim Wasserlassen“, „Jeder hat seine Macken – ich uriniere lieber allein.“ sind eine Alternative und/oder Ergänzung zu Konfrontationstherapien. Denn: Es steht ja jedem frei und ist völlig legitim, sich für sein kleines Geschäft in eine Klokabine zurückzuziehen. Einzig die Gedanken des Betroffenen darüber, was andere denken könnten, sind ein Problem. Nicht die Situation an sich ist das Problem, sondern die eigenen Gedanken dazu.

Entspannungstechniken

Eine der wichtigsten Entspannungstechniken ist die Progressive Muskelanspannung nach Jacobson sowie eine Kegelübung.

Durch ein bewusstes Anspannen und Entspannen der Beckenbodenmuskulatur lässt sich die Blasenentleerung über den Willen steuern. Fachleute und Betroffene sind von dieser Therapie gleichermaßen angetan. Auch nach langer Leidenszeit kann 75 % der Betroffenen schon durch eine Kurzzeittherapie mit 20 Sitzungen geholfen werden. Bei manchen geht die Symptomatik komplett zurück, bei anderen lassen sich zumindest die Beschwerden lindern.

Selbsthilfegruppen können eine wertvolle Unterstützung nach einer Verhaltenstherapie bieten oder sie können die Therapie auch begleiten.

Schüchterne Blase - Shy Bladder Syndrome: Paruretiker haben Angst bis Panik vor dem Pinkeln, wenn jemand es hört, sieht, oder in die öffentliche Toilette reinkommen könnte - zum Teil mit gravierenden Langzeitfolgen. (© Markus Bormann / Fotolia)
Schüchterne Blase – Shy Bladder Syndrome: Paruretiker haben Angst bis Panik vor dem Pinkeln, wenn jemand es hört, sieht, oder in die öffentliche Toilette reinkommen könnte – zum Teil mit gravierenden Langzeitfolgen. (© Markus Bormann / Fotolia)

Mehr zum Thema im Web:

Probleme und Angst, Wasser zu lassen (auf öffentlichen Toiletten, am Pissoir / Stehklo)

Ängste, Phobien, Panikattacken > Angststörungen und Angsterkrankungen