Definition elektiver / selektiver Mutismus
Selektiver Mutismus ist eine emotional bedingte Sprachstörung, bei der die Betroffenen nur mit einem bestimmten Personenkreis sprechen können.
Der elektive Mutismus bedeutet übersetzt eine wahlweise Verstummung, von diesem Ausdruck wird inzwischen jedoch meist Abstand genommen, da das Verstummen nicht frei gewählt wird. Insofern ist die Diagnose selektiver Mutismus heute üblicher. Beide Fachbegriffe bezeichnen das letztlich gleiche Störungsbild.
Die Definition selektiver Mutismus bedeutet jedoch keine Sprachstörung im herkömmlichen Sinn, denn in der Regel ist das Sprachvermögen normal entwickelt, allenfalls liegt eine leichte Verzögerung vor. Bestimmte Situationen oder die Anwesenheit ausgewählter Personen führen jedoch zu einem meist angstbedingtem zeitlich begrenzten Sprachausfall. Die Betroffenen leben zwischen zwei Welten, erleben ein Wechselspiel aus Schweigen und Sprechen. Selektiver Mutismus lässt sich im Allgemeinen gut behandeln, oft dauert er nur wenige Monate an. Unbehandelt kann er chronisch werden und über mehrere Jahre bestehen bleiben.
Ursachen des selektiven Mutismus bei Kindern
Die Sprachstörung kann erstmals im Kleinkindalter auftreten, etwa beim Besuch in der Kita oder im Kindergarten. Es kommt vor, das ein Kind zuhause munter erzählen kann, im Kindergarten, in fremder Umgebung oder in Anwesenheit fremder Personen teilweise oder gänzlich verstummt. Diese Störung geht über eine bloße Schüchternheit hinaus, sie tritt oft auf mit anderen sozialen Auffälligkeiten wie Bettnässen oder der Angst, nachts alleine zu schlafen.
Genetische Einflüsse, eine von Natur aus ängstliche Persönlichkeit oder sprachliche Defizite begünstigen die Entstehung dieser teilweisen Verstummung. Persönlichkeitsmerkmale wie scheu, schüchtern oder introvertiert (siehe Introversion) sind weitere Voraussetzungen. Häufig haben diese Kinder zusätzlich eine sehr enge Bindung zur Mutter oder wachsen überbehütet auf. Es sind doppelt so viele Mädchen von der Sprachhemmung betroffen wie Jungen.
Ein weitere Erklärung ist eine bestehende Veranlagung, der Sprachausfall tritt vermehrt bei Kindern auf, wo bereits Persönlichkeitsstörungen vorkommen (siehe unseren Übersichtsartikel Persönlichkeitsstörung), z.B. ist ein Elternteil ebenfalls gehemmt. Ausgelöst wird diese Störung dann durch eine äußere Belastung, wie etwa der Eintritt in die Kita, in den Kindergarten oder in die Schule.
Die Diagnose selektiver Mutismus wird von den Eltern oft spät erkannt, da ihr Kind im vertrauten Umfeld oftmals ganz normal kommunizieren kann.
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Mutismus bei Jugendlichen und bei Erwachsenen
Mutistisch veranlagte Kinder und Jugendliche beteiligen sich nicht am Schulunterricht, weder aktiv noch passiv. Zu ihren Mitschülern bestehen oft nur sehr eingeschränkte Kontakte, eine Kommunikation in den Pausen findet nur selten statt. Manche Kinder und Jugendliche „erstarren“ regelrecht in ihrem Ausdrucksverhalten und ihrer Mimik, wenn sie angesprochen oder sich unter Druck gesetzt fühlen. Im Klassenverband findet sich meist ein Mitschüler, der als „kommunikatives Medium“ für den mutistischen Jugendlichen spricht.
Folgen der Sprachhemmung
Eine erschwerte Kindergartenzeit, Schulprobleme, Fehleinschätzungen der schulischen Leistungen bis hin zur sozialen Isolation sind mögliche psychosoziale Auswirkungen.
Bleibt selektiver Mutismus bei Jugendlichen unbehandelt, kann die Störung bis in das Erwachsenenalter auftreten, Schwierigkeiten im Berufsleben sind vorprogrammiert.
Mutismus Arten in der Unterscheidung
Es wird zwischen drei Mutismus Arten unterschieden.
- Der selektive Mutismus ist eine Verhaltensstörung, die vorwiegend im Kinder- und Jugendalter auftritt. Hier steht die Unfähigkeit zur Artikulation in bestimmten Situationen oder bei ausgewählten Personen im Vordergrund. Im vertrauten Umfeld wird oft überdurchschnittlich viel geredet, der versäumte Gesprächsstoff wird nachgeholt. Es bestehen keine geistigen Einschränkungen. Die Weltgesundheitsorganisation definiert die Krankheit in der ICD 10 als eine psycho-soziale Angst mit Verhaltensbesonderheiten.
- Eine weitere Form ist der totale Mutismus. Hier ist die Diagnose leichter zu stellen, die betroffene Person ist komplett verstummt, es findet keinerlei verbale Kommunikation statt, die Symptome entstehen oft als Traumafolge.
- Als Letztes ist der akinetische Mutismus zu nennen. Hier handelt es sich um ein neurologisches Problem, der Erkrankte ist wach und hat keine Lähmungen, kann sich dabei weder bewegen noch sprechen.
Wo gibt es Hilfe für Eltern?
Wie gehe ich damit um, wenn mein Kind eine mutistische Störung aufweist? Nicht jedes Kind, das wenig oder gar nicht spricht, leidet an Mutismus, deshalb sollte bei Verdacht immer erst der Arzt aufgesucht werden, um mögliche andere Gründe auszuschließen. Mögliche Ursachen können z.B. Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit sein. Eine gründliche körperliche Untersuchung, wo auch die sprachliche Entwicklung geprüft wird, ist der erste Schritt zur Behandlung. Ärzte stellen die Diagnostik in der Regel erst, wenn die Symptome mindestens über einen Zeitraum von einem Monat anhalten. Es gibt einen vorübergehenden Mutismus, z.B. als Traumafolge, hier hält der Sprachausfall nicht länger als vier Wochen an.
Therapie und Leitlinien zur Behandlung
Die Therapie ist immer individuell auf die zu behandelnde Person zugeschnitten, hierbei ist das Alter und das Ausmaß der Erkrankung zu berücksichtigen. Bestimmte Leitlinien zur Behandlung sollten grundsätzlich eingehalten werden.
Das Sprechen erzwingen und Druck aufbauen muss vermieden werden. Mut machen und Unterstützung anbieten, Geduld üben und Verständnis aufbringen ist enorm wichtig. Die meisten Kinder wollen sprechen, hier ist das dabei empfundene Angstgefühl mächtiger als der Wunsch zu sprechen.
Galten mutistische Kinder früher als „dickköpfig“ oder „eigensinnig“, sind sich die Psychologen heute einig, dass diese Kinder an einer Angststörung leiden.
Bei der Therapie von Kleinkindern und Kindern gibt es verschiedene Formen, die zum Einsatz kommen. In der Verhaltenstherapie kann ein Kind lernen, mit fremden Menschen zu sprechen. Hier versuchen die Therapeuten, durch gemeinsames Spielen Vertrauen aufzubauen und Ängste der Kinder abzubauen, bis sie in der Lage sind, sich verbal zu äußern. Für eine erfolgreiche Therapie ist es wichtig, dass sowohl die Eltern als auch Ansprechpartner in Kindergarten und Schule mit einbezogen werden.
Gründe, die zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung der Sprachdefizite geführt haben, können im Rahmen einer Familientherapie aufgearbeitet werden.
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Stehen sprachliche Auffälligkeiten im Vordergrund, ist eine Sprachtherapie bzw. Logopädie angezeigt. Die Verhaltenstherapie bietet die Möglichkeit zur Angstreduktion und direkten Arbeit am Kernsympton des Schweigens. Durch Trauma ausgelöstes Verstummen sollte psychiatrisch behandelt werden.
Im Jugendalter kann im Rahmen einer Psychotherapie die Erweiterung kommunikativer Fähigkeiten erlernt werden. Hier haben Jugendliche die Möglichkeit, Probleme in der Pubertät, die eventuell zu ihrer Sprachhemmung beitragen, zu erzählen und aufzuarbeiten.
Auch die Teilnahme an einer Gruppentherapie zum Abbau sozialer Ängste ist hier zu empfehlen (siehe Sozialkompetenztraining gegen soziale Ängste), um die Psychodynamik positiv zu beeinflussen (vgl. Gruppentherapie Themen). Je nach Interesse kann auch eine Musiktherapie, eine Bewegungstherapie oder eine Kunsttherapie zur Verbesserung beitragen.
Bei starker Ausprägung der Störung wird ggf. zusätzlich eine medikamentöse Behandlung verabreicht, wobei diese nie als einzige Maßnahme durchgeführt werden sollte, sondern immer nur begleitend.
Grundsätzlich ist eine Psychoanalyse zu empfehlen, wenn durch Trauma, Gewalterfahrungen oder durch starke Vernachlässigung eine massive Störung hervorgerufen wurde.
Verlauf der Erkrankung / Störung
Selektiver Mutismus kann sehr unterschiedlich verlaufen, ca. 50% der betroffenen Kinder weisen im Erwachsenenalter ein normales Sprechverhalten auf. Je früher mit der Behandlung angefangen wird, desto besser sind hier die Heilungschancen.
Bleibt die Störung unbehandelt, können sich die Folgen bis ins Erwachsenenalter ausdehnen.
Parallelen zu anderen Erkrankungen
Als Komorbidität, sprich als Begleiterkrankung, tritt häufig eine soziale Phobie, eine Angststörung auf, die sowohl im Kleinkindalter, im Jugendalter, gerade in der Pubertät, als auch bei Erwachsenen in Erscheinung treten kann. Menschen mit einer sozialen Phobie sind sehr unsicher im Umgang mit anderen, sie haben Angst, negativ aufzufallen, sich ungeschickt anzustellen oder sich lächerlich zu machen. Angst vor ungewohnten Situationen und Personen zeichnet sie aus, hier zeigen sich deutliche Parallelen zu der Entstehung des selektiven Mutismus. Die Angst, nicht gut genug zu sein, bestimmt ihr Leben, die Leidenden sind oft schüchtern, zurückhaltend und haben ein geringes Selbstwertgefühl. Hier macht es Sinn, beide Leiden analog zu behandeln. Es gibt verschiedene Formen der Ausprägung (Stärke) einer sozialen Phobie.
Bei der Diagnostik gibt es einige Gemeinsamkeiten zum Autismus, daher ist eine gründliche Anamnese durch den Facharzt erforderlich. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, sie gilt als angeboren und nicht heilbar, erste Auffälligkeiten treten ab dem 10.-12. Lebensmonat auf. Eine stark eingeschränkte Sprachentwicklung, Probleme im sozialen Umgang und stereotype Verhaltensweisen sind charakteristische Merkmale einer autistischen Störung. Autismus gilt als angeboren und nicht heilbar, Betroffene brauchen ein Leben lang Unterstützung. Im ICD 10 wird zwischen frühkindlichem Autismus und dem Asperger Syndrom unterschieden, letzteres bezeichnet eine mildere Variante der autistischen Störung, hier sind erste Anzeichen ab dem 4. Lebensjahr zu erwarten. Ein grammatisch hoch entwickelter Sprachstil und normale bis hohe Intelligenz, teilweise auch Hochbegabung, kennzeichnen das Asperger Syndrom. Defizite in der sozialen Interaktion weisen beide Varianten auf.
Wie gehe ich damit um, wenn mein Kind unter Mutismus leidet?
Erwachsene finden oftmals keine Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten ihres Kindes. Unter Still Leben e.V. Hannover gibt es Hilfe für Eltern, Interessierte können sich weitere Informationen herunterladen, um die Kommunikationsstörung ihres Kindes besser zu verstehen.
Besteht das Schweigen länger als vier Wochen, kann eine sprachtherapeutische Untersuchung veranlasst werden. Der Kinderarzt stellt hierfür eine Heilmittelverordnung über eine Sprachtherapie aus, die Kosten übernimmt die Krankenkasse.
Nehmen Sie das Schweigen ihres Kindes nicht persönlich, es weiß sich momentan nicht anders zu helfen. Grenzen Sie ihr Kind nicht aus, ob und wann es wieder anfängt zu sprechen, entscheidet es selbst. Die Aufgabe der Eltern besteht darin, zu begleiten und zu verstehen.
Eine Therapie sollte immer mehrere Aspekte berücksichtigen, sprach-, psycho- und familientherapeutische Hilfe (siehe Familientherapeuten) kann hier in Einzel- oder Gruppentherapie kombiniert werden.
Weiterführende Ressourcen:
- Selektiver / Elektiver Mutismus bei mehrsprachigen Kindern – eine Längsschnittstudie zum Einfluss kindlicher Ängste, Sprachkompetenzen und elterlicher Akkulturation auf die Entwicklung des Schweigens, https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/34084/1/Dissertation.pdf
- Mutismus – Diagnostik und Evaluation im Spannungsfeld nosographischer Modifikationen, https://boris-hartmann.de/_Resources/Persistent/9f80b9a057f21eed1fe28d27e930257597e48f3a/Die%20Sprachheilarbeit%205-2002.pdf
- Mutismus bei Kindern – Leitlinien für Pädagogen, https://www.mutismus.de/informationen-und-aufklaerung/leitlinien-fuer-paedagogen
- Selektiver Mutismus bei Erwachsenen – Onlineforum für Diskussionen und Erfahrungsaustausch, https://www.mutismus-forum.de/?f=46
- https://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article106206345/Eingesperrt-im-Gefaengnis-des-Schweigens.html
- https://www.jameda.de/gesundheit/psyche-nerven/mutismus-kinder-erwachsene-ursachen-symptome-therapie/
- https://www.dbl-ev.de/kommunikation-sprache-sprechen-stimme-schlucken/stoerungen-bei-kindern/stoerungsbereiche/komplexe-stoerungen/mutismus.html