Valproinsäure / Valproat - Wozu dient es? (► Orfiril, ► Ergenyl, ► Depakine) (© Tobilander / stock.adobe.com)

Valproinsäure / Valproat – Wozu dienen Orfiril, Ergenyl, Depakine?

Wer im Internet nach „Ergenyl“, „Orfiril“ oder „Depakine“ sucht, findet in allen Fällen Artikel zum Thema Valproat respektive Valproinsäure. Was hat es damit auf sich?

Valproinsäure – eines der bedeutendsten Antiepileptika

Valproinsäure ist der Trivialname der 2-Propylpentansäure, einer schwach sauren verzweigten Carbonsäure. Sie hat große pharmakologische Bedeutung als Antikonvulsivum (Antiepileptikum), wird aber auch zur Behandlung von bipolaren affektiven Störungen und Migräne eingesetzt. Die Substanz steht auf der WHO-Liste der unentbehrlichen Arzneimittel, die die sichersten und wirksamsten pharmakologischen Wirkstoffe beschreibt.

In Pharmaka werden neben der freien Säure auch ihre Salze, die Valproate (z.B. Natriumvalproat) eingesetzt. Neben zahlreichen Generika ist Valproinsäure im deutschsprachigen Raum z.B. als Depakine, Convulex, Orfiril und Ergenyl im Handel, in anderen Ländern ist die Präparatbezeichnung Depakote verbreitet.

Große Aufmerksamkeit erfuhr in jüngerer Vergangenheit die erhöhte Gefahr von Missbildungen des Fetus bei Einnahme in der Schwangerschaft. In Frankreich wurde das Medikament deswegen für Schwangere verboten.

Geschichte

Valproinsäure wurde das erste Mal 1881 synthetisiert und als Lösungsmittel für Stoffe, die in Wasser unlöslich sind, eingesetzt. Die pharmakologischen Eigenschaften waren danach lange Zeit unbekannt. Erst als Pierre Eymard im Jahre 1962 auf der Suche nach Antiepileptika mit Kandidatensubstanzen in Valproinsäurelösung experimentierte, stellte er fest, dass nicht etwa die untersuchten Stoffe, sondern das Lösungsmittel selbst (eingesetzt als Vergleichskontrolle, bei der keine Wirkung erwartet wurde) die erhofften Effekte auslöste. So konnte Valproinsäure Krampfanfälle verhindern, die in Versuchstieren durch Gabe von Pentetrazol ausgelöst werden sollten. Fünf Jahre später erhielt der Wirkstoff die Zulassung als Medikament und entwickelte sich seitdem zum bedeutendsten Antikonvulsivum überhaupt.

Wirkmechanismus

Die exakte Pharmakodynamik des Valproats ist noch bekannt, allerdings gibt es zahlreiche Erkenntnisse zu beeinflussten Stoffwechselwegen und Rezeptoren. So blockiert die Substanz spannungsabhängige Natriumkanäle in Nervenzellen und erhöht die Konzentration des Neurotransmitters GABA im Gehirn. Dies erfolgt durch die Hemmung GABA-abbauender Enzyme.

Die Substanz wirkt auch als Inhibitor der Klasse-I-Histondeacetylase. Dadurch hat Valproinsäure einen Effekt auf die Zellkernaktivität von Nervenzellen und aktiviert die Expression von Genen durch Eingriff in epigenetische Regulationskreise. Dadurch kann sie im Gehirn neuroregenerative und neuroprotektive Mechanismen fördern.

Einige der Nebenwirkungen von Ergenyl, Orfiril, Depakine und Co lassen sich durch unerwünschte Wirkung auf das endokrine System erklären: So hemmt Valproat Androgen- und Progesteronrezeptoren und kann insbesondere das reproduktive System des Menschen beeinflussen.

Anwendung von Valproat

Valproat wird klassischerweise zur Behandlung generalisierter Krampfanfälle eingesetzt. Diese Epilepsieformen betreffen das ganze Gehirn (tonisch-klonische/ Grand Mal – Anfälle, Absencen, Myoklonien). Auch bei fokalen Anfällen ist der Wirkstoff gut geeignet. Die Wirksamkeit ist so breit, dass es bei fast allen Patienten angewendet werden kann. Auch akute Anfallsereignisse lassen sich durch intravenöse Verabreichungen beenden, hier gilt Valproat als weniger nebenwirkungsträchtig als andere Medikamente (z.B. Benzodiazepine, Phenytoin). Die Senkung der Krampfneigung unter Alkoholentzug ist ein weiteres Einsatzgebiet der antikonvulsiven Eigenschaften.

Ebenfalls zugelassen ist Valproinsäure zur Behandlung der bipolaren affektiven Störung (ehem. “manisch-depressive Störung”). Es kommt zur Anwendung, wenn Lithium nicht vertragen wird oder aufgrund vorliegender Kontraindikationen nicht verschrieben werden darf. Auch die Phasenprophylaxe, d.h. das Abmildern sich erst anbahnender Manien, kann mit dem Wirkstoff betrieben werden. Im Vergleich zu Lithium ist Valproat effektiver bei Patienten mit “rapid cycling”, d.h. dem schnellen Wechsel zwischen manischen und depressiven Episoden. Auch bei dysphorischer und psychotischer Manie ist Valproinsäure Lithium bei der Verhinderung von Rückfällen überlegen. Da der Wirkstoff weniger lange zur Etablierung der Wirkung braucht, wird er immer häufiger auch bei klassisch euphorischen Manien eingesetzt. Zieht man allerdings auch die Häufigkeit depressiver Rückfälle in den Vergleich, so gilt Lithium der Valproinsäure als überlegen, auch was die Senkung der Suizidrate angeht.

Zusätzlich zu Neuroleptika wird Valproinsäure verwendet, um aggressive Impulse von Schizophrenie-Patienten zu mildern. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen bestehen auch nach Einnahme antipsychotischer Medikamente weiterhin belastende Symptome. Durch gleichzeitige Einnahme von Valproat wird eine generelle Verbesserung der Wirksamkeit erreicht.

Im off-label-Use, d.h. außerhalb der eigentlichen Zulassung, verwenden Ärzte Valproat (wie etwa Ergenyl, Depakine, Orfiril) zur Behandlung von Migräne und insbesondere zur Vorbeugung von Migräneattacken (ausschließlich bei Erwachsenen!). Voraussetzung ist, dass die Behandlung mit anderen für Migräne zugelassenen Medikamenten aufgrund fehlender Wirksamkeit oder wegen Nebenwirkungen abgebrochen werden musste.

Derzeit erforscht wird auch eine Nutzung der Wirkung auf die epigenetische Regulierung des Zellkerns, z.B. um Krebs oder AIDS behandeln zu können. Als Monotherapeutikum für Krebs gibt es bislang nicht genug Evidenz. Durch Kombination mit anderen Wirkstoffen konnten jedoch Erfolge z.B. in der Behandlung des Myelodysplastischen Syndroms (MDS). Auch die Sensitivität von kanzerogenen Erkrankungen auf bereits abgeschlossene Chemotherapeutika konnte deutlich erhöht werden.

Dosis und Einnahme

Die übliche Darreichungsform erfolgt als Tablette oder Retardtablette. Daneben sind auch Tropfen zum Einnehmen und Injektionslösungen verfügbar. Je nach Verträglichkeit kann die Einnahme auch über mehrere Dosen täglich verteilt werden. Insgesamt nehmen Erwachsene pro Tag bis zu 2000 mg Valproinsäure (entspricht 2350 mg Na-Valproat) ein, es erfordert beim Ansetzen der Medikation jedoch eine gewisse Zeitspanne, innerhalb derer die Dosis um 300 mg alle 3-5 Tage erhöht wird.

Um das Eintreten von Nebenwirkungen besser abschätzen zu können und auch um die Wechselwirkung mit anderen Medikamenten abzuklären, kann es sinnvoll sein, den Blutspiegel der Valproinsäure zu kontrollieren. Auch zur Überprüfung der Compliance v.a. psychisch kranker Patienten kann die Konzentration im Blut gemessen werden. Diese liegt üblicherweise bei 50 bis 100 mg/L.

Kontraindikationen

Valproinsäure darf bei folgenden Patienten nicht eingesetzt werden:

  • Menschen mit akuten oder chronischen Leberfunktionsstörungen oder einer familiären Hepatitis-Vorgeschichte insbesondere in Verbindung mit Medikamenten
  • beim Vorliegen einer bekannten Valproat-Unverträglichkeit
  • Patienten mit Störungen des Harnstoffwechsels oder Leber-abhängiger Porphyrie
  • bei Krankheiten, die die Funktion der Mitochondrien beeinträchtigen (z.B. Mitochondriale Myopathien, MERF-Syndrom, Leigh-Syndrom)
  • Menschen mit akuter oder chronischer Pankreatitis
  • aufgrund der zahlreichen möglichen Nebenwirkungen dürfen Kinder Valproinsäure nur in Ausnahmefällen verschrieben bekommen (v.a. wenn andere Antiepileptika nicht anschlagen oder nicht vertragen werden)
  • Schwangerschaft: siehe unten

Depakine, Ergenyl, Orfiril & Co: Valproinsäure und Schwangerschaft

Schwangere haben bei Einnahme von Valproinsäure häufiger Komplikationen, insbesondere kann es zur starken Schädigung des Fetus kommen: V.a. Spina bifida tritt vermehrt auf, insgesamt kommt es dreimal häufiger zu Fehlbildungen des Kindes. Ebenfalls wurde ein selten auftretendes “Valproat-Syndrom” beschrieben, bei welchem neben Wachstums- und Entwicklungsverzögerungen auch die Gesichtszüge des Kindes verändert sein können (z.B. dreieckig geformte Stirn, Ausbildung einer Oberlidfalte, verlängertes Philtrum).

Kinder von Frauen, die während der Schwangerschaft Valproat einnahmen, haben im Durchschnitt einen verringerten IQ sowie ein erhöhtes Autismus-Risiko und leiden häufiger an ADHS als der Durchschnitt. Aus diesen Gründen wird Patientinnen mit Kinderwunsch empfohlen vor der Empfängnis auf einen anderen Wirkstoff umzusteigen oder zumindest die Valproinsäure-Dosis zu verringern.

In Frankreich laufen aktuell Schadensersatzklagen gegen den Hersteller Sanofi, weil dieser angeblich nicht hinreichend über die möglichen Risiken der Valproateinnahme unter der Schwangerschaft aufgeklärt hat, da entsprechende Daten bereits seit mindestens 2004 vorlagen. Der französische Staat richtete 2017 einen 10 Mio € umfassenden Fonds ein, der für Entschädigungszahlungen für Geschädigte genutzt werden soll. Infolge der zahlreichen Missbildungen wurde der Einsatz von Valproinsäure bei Schwangeren in Frankreich mittlerweile untersagt. In Deutschland ist der Einsatz in der Schwangerschaft hochumstritten und gilt als enormes Risiko, eine allgemeine Regelung zur Entschädigung Betroffener gibt es jedoch nicht.

Da epileptische Anfälle und hochmanische Phasen bei bipolaren Patienten eine ebenfalls beträchtliche Gefährdung des Ungeborenen darstellen, ist die Risikoabwägung bei therapieresistenten Störungen jedoch schwierig.


Schulungsmaterial für Valproat-haltige Arzneimittel wie Orfiril, Ergenyl, Depakine beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RI/2018/RI-valproat.html am 06.01.2021)
Schulungsmaterial für Valproat-haltige Arzneimittel wie Orfiril, Ergenyl, Depakine beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RI/2018/RI-valproat.html am 06.01.2021)

Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten

Valproinsäure hat vielfältige Wirkungen auf den Fremdstoffmetabolismus: Die Substanz hemmt die Leberenzyme CYP2C9, Glucuronyltransferase und Epoxidhydrolase, die alle eine Rolle beim Abbau von Medikamenten spielen. So wird unter Umständen die Ausscheidungsdauer und damit auch die Wirkungsdauer anderer Wirkstoffe verlängert. Darüber hinaus bindet Valproinsäure im Blut sehr stark an Plasmaproteine und verdrängt dort u.U. andere schwer wasserlösliche Substanzen und beeinflusst deren Wirkung. All dies muss bei der Dosiseinstellung von Valproat und den in Kombination verwendeten Wirkstoffen bedacht werden.

  • Alkohol darf bei Einnahme von Valproat nicht getrunken werden, da dessen dämpfende Wirkung auf das Zentralnervensystem durch das Medikament stark erhöht werden kann
  • Cimetidin und Erythromycin können den Valproinsäure-Abbau hemmen und so den Blutspiegel erhöhen
  • Aspirin und Felbamat verstärken die Valproat-Aufnahme ins Blut
  • Warfarin, Zidovudin und Ethosuximid werden langsamer abgebaut
  • bei blutverdünnenden Medikamenten muss generell von einer weiter erhöhten Blutungsneigung ausgegangen werden
  • sämtliche Benzodiazepine können in Verbindung mit Valproat stärker ZNS-dämpfend wirken
  • Mefloquin verringert die Valproatwirkung und kann Krampfanfälle auslösen
  • Quetiapin kann das Risiko einer Leukopenie/ Neutropenie erhöhen
  • orale Verhütungsmittel können die Plasmakonzentration von Valproat verrringern

Nebenwirkungen

Zu den häufigsten Nebenwirkungen der Valproinsäure gehören Hyperammonämie (dadurch: Übelkeit, Schwindel, Benommenheit, Erbrechen, Beeinträchtigungen des Appetits mit Gewichtsveränderungen und Schwächegefühle) und Tremor. Auch allergische Hautreaktionen sind häufig.

Folgende schwerwiegenderen Komplikationen können auftreten: Blutungen und Anämie, Thrombopenie oder Leukopenie (bildet sich oft im Laufe der Therapie, jedoch stets nach Absetzen von Valproat zurück), Encephalopathien, das Auftreten von Suizidgedanken und -verhalten, verringerte Körpertemperatur und Taubheit. Seltener kommt es auch zu Hyponatriämie, extrapyramidalen Störungen, Stupor, Parästhesien, Erinnerungsstörungen, Nystagmus, Zahnfleischerkrankungen (Gingivahyperplasie), Stomatitis, Dysmenorrhöe und Haarausfall (i.d.R. vorübergehend).

Die erwähnten Appetitbeeinträchtigungen basieren auf Veränderungen im Insulin-Zucker-Stoffwechsel und führen häufig zu Gewichtszunahme und metabolischem Syndrom.

Die schwerwiegenden negativen Auswirkungen auf die fetale Entwicklung wurde bereits unter Kontraindikationen ausgeführt. Auch Kinder und Heranwachsende können Wachstumsstörungen durch vorzeitige Verknöcherung der Wachstumsfugen erleiden.

Überdosis

Da Valproinsäure auch bei psychisch kranken Patienten angewendet wird, kommen gelegentlich willentlich herbeigeführte Überdosierungen, auch in suizidaler Absicht, vor. Bei Erwachsenen können Vergiftungserscheinungen ab einer Einzeldosis von 2000 mg auftreten – die therapeutische Breite ist sehr gering und erfordert eine sorgfältige Dosiseinstellung.

Symptome einer Intoxikation sind Bewusstseinseintrübungen bis hin zum Koma, das Auftreten von Halluzinationen und gesteigerter Unruhe und in extremen Fällen Krampfanfälle, Hirnödeme, Atemdepression und Atemstillstand, Hypotonie, Bradykardie und Asystolie.

Da kein Gegenmittel verfügbar ist, muss bei Vergiftungsfällen die Hemmung der Resorption durch Aktivkohle oder Emetika im Vordergrund stehen. Blutwäschemaßnahmen können den Wirkstoffspiegel senken, ansonsten muss symptomatisch behandelt werden.


Valproinsäure / Valproat - Wozu dient es? (► Orfiril, ► Ergenyl, ► Depakine) (© Tobilander / stock.adobe.com)
Valproinsäure / Valproat – Wozu dient es? (► Orfiril, ► Ergenyl, ► Depakine) (© Tobilander / stock.adobe.com)

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Quellen:

  • Depakene, Stavzor (valproic acid) dosing, indications, interactions, adverse effects, and more”. Medscape Reference. WebMD
  • Owens MJ, Nemeroff CB (2003). “Pharmacology of valproate”. Psychopharmacol Bull. 37 Suppl 2: 17–24
  • Brodie, Brandes (2014) “Could valproic acid be an effective anticancer agent? The evidence so far”, Expert Rev Anticancer Ther. 2014 Oct; 14(10): 1097–1100
  • https://www.cochrane.org/de/CD004028/SCHIZ_valproat-bei-schizophrenie
  • https://flexikon.doccheck.com/de/Valproins%C3%A4ure
  • https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2012/daz-49-2012/dickmacher-valproinsaeure
  • https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2005/daz-31-2005/uid-14364
  • https://www.arznei-telegramm.de/html/2010_03/1003028_01.html
  • http://www.epilepsie-netz.de/185/Epilepsie-Ratgeber/ (Stichpunkt Valproinsäure)
Ergenyl Chrono 500 Retardtabletten (Valproat-Natrium) - Infos gibts bei der Stiftung Warentest unter https://www.test.de/medikamente/medikament/ergenyl-chrono-500-retardtabletten-n3166/ (Screenshot 06.01.2020)
Ergenyl Chrono 500 Retardtabletten – Infos gibts bei der Stiftung Warentest unter https://www.test.de/medikamente/medikament/ergenyl-chrono-500-retardtabletten-n3166/ (Screenshot 06.01.2020)

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