Als vegetative Dystonie oder psychovegetative Dystonie wird ein Symptomkomplex bezeichnet, bei dem die Erregungsleitung des vegetativen Nervensystems beeinträchtigt ist. Damit zählt sie zu den sogenannten „somatoformen Störungen“ (vgl. Somatisierungsstörung). Ob es sich überhaupt um ein in sich geschlossenes Krankheitsbild oder ein Syndrom im engeren Sinne handelt, ist bislang nicht gesichert. Bis zur sicheren wissenschaftlichen Einordnung stellt es daher eher eine Hypothese dar, aus diesem Grund wurde bislang auch keine zugehörige Nummer im ICD-10 (International Classification of Diseases) oder DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) vergeben. Eine offizielle Empfehlung zu Therapie oder Medikamenten existiert ebenfalls nicht.
Ursachen: Bislang besagt die Theorie, dass eine vegetative Dystonie entsteht, wenn gewöhnlich unwillkürliche und autonom ablaufende Prozesse des Nervensystems gestört sind. Zu diesen Prozessen gehören beispielsweise Verdauungsfunktionen wie die Darmmotilität, die Atemfrequenz, der Herzschlag und Blutdruck, Schweißdrüsenaktivität, Pupillenreaktion und Hormonaktivität. Diese Funktionen lassen sich normalerweise nicht oder nur sekundär beeinflussen, beispielsweise über Entspannungstechniken. Das vegetative Nervensystem dient der Anpassung des Körpers an unterschiedliche Situationen und Notwendigkeiten. Ist es überlastet, kann es möglicherweise zu einer vegetativen Dystonie kommen.
Im Falle psychischer Belastungen, Ausnahmezustände oder langandauernder seelischer Strapazen nimmt die korrekte Regulation dieser Fähigkeiten möglicherweise ab. Es kommt zu Veränderungen der genannten Systeme, die zwar minimal und physisch nicht gefährlich, nichtsdestotrotz aber gravierend für die Lebensqualität der Betroffenen sein können. Als Ursache wird angenommen, dass die beiden Hauptbestandteile des vegetativen Nervensystems, Parasympathikus und Sympathikus, nicht mehr Hand in Hand ineinandergreifen. Siehe auch:
Das Zwischenhirn (Dienzephalon) kann ihr reibungsloses Funktionieren nicht mehr wie gewohnt steuern. Neben Stress und Belastungen werden auch das Verschwimmen natürlicher Rhythmen wie Tages- und Jahreszeiten sowie fehlende Ruhephasen in der modernen Lebensführung für das Auftreten verantwortlich gemacht. Auch persönliche Disposition scheint eine Rolle zu spielen.
Psychovegetative Dystonie: Symptome
Die Symptome einer vegetativen Dystonie beziehungsweise psychovegetativen Dystonie können theoretisch sehr variabel sein, da das vegetative Nervensystem sehr viele unterschiedliche Bereiche umfasst. Möglich ist auch eine, sich unter Umständen rasch abwechselnde, Dominanz des Sympathikus (Sympathikotonie) und des Parasympathikus (Vagotonie). Erstere geht mit „aktivierenden“ Symptomen wie erhöhtem Blutzucker, Puls, Blutdruck und gesteigerter Atemfrequenz sowie erweiterten Pupillen einher. Letztere zeigt das umgekehrte Bild, mit niedrigem Blutdruck und Puls, engen Pupillen und, bedingt durch die geringe Durchblutung, nicht selten kalten Händen und Füßen. In der Literatur und Erfahrungsberichten werden unter anderem folgende Symptome beschrieben:
- Zittern, auch nur der Hände (vgl. Angst vorm Händezittern)
- Schwindel
- Veränderung des Pulsschlags
- vermehrtes Schwitzen
- Krämpfe
- Verdauungsstörungen wie Verstopfung, Durchfall, Übelkeit, Bauchschmerzen
- Kopfschmerzen
- Schlafstörungen (siehe hierzu auch: Einschlafstörung / Durchschlafstörung)
Neben diesen Symptomen wird gelegentlich auch ein Zusammenhang zu einer Reizblase oder einem Reizdarm gesehen.
- de.wikipedia.org/wiki/Vagotonie
- de.wikipedia.org/wiki/Sympathikotonie
- netdoktor.de/krankheiten/vegetative-dystonie/
Diagnose und Abgrenzung vegetativer Dystonien
Die Bestimmung der psychovegetativen Dystonie ist grundsätzlich nur als Ausschlussdiagnose möglich, unter anderem, da keine klare Definition vorliegt. Da reine Ausschlussdiagnosen als Definition für eine psychische Erkrankung jedoch nicht ausreichen, ist diese letztlich nicht möglich. Die Diagnose wird daher ausschließlich anhand der Symptome und dem Fehlen anderer Alternativen gestellt.
Umso wichtiger ist dabei die gründliche Abklärung aller möglichen körperlichen Erkrankungen wie Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, entzündliche Erkrankungen des Verdauungssystems, Erkrankungen des Innenohrs, Herzerkrankungen und neurologische Störungen. Weiterhin ist eine Abgrenzung zu anderen psychischen Erkrankungen notwendig. Diese ist besonders schwierig, da nahezu alle infrage kommenden Erkrankungen mit der vegetativen Dystonie ähnelnden Anzeichen aufwarten. Hier ist besonders der Begriff „Psychosomatik“, der generell den Einfluss psychischer Zustände auf physische Vorgänge aufzeigt, wichtig (siehe psychosomatische Beschwerden, psychosomatische Kliniken). So zeigen viele Personen mit Depressionen zum Beispiel – nicht selten sogar als Erstsymptom – chronische Kopf-, Rücken- oder Magenbeschwerden. Angstpatienten hingegen empfinden häufig Symptome, die an Herzprobleme erinnern und mit Atemnot oder Schwindel einhergehen. Selbst ansonsten gesunde Menschen können unter großer Anspannung Krankheitsanzeichen oder beispielsweise einen erhöhten Blutdruck zeigen.
Die Spannbreite ist hier also so groß, dass häufig mehrere Erkrankungen infrage kommen – oder umgekehrt keine. Aufgrund der sehr unspezifischen Anzeichen umfasst die Liste der Möglichkeiten lebensgefährliche Erkrankungen wie Krebs bis hin zu relativ harmlosen Mangelerscheinungen (beispielsweise Magnesium, Kalium, Vitamin E). Auch übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum oder aber Entzug müssen ausgeschlossen werden. Ein geschulter Arzt wird also verschiedene körperliche Untersuchungen voranstellen und zunächst den Blutdruck, Entzündungswerte sowie weitere Blutwerte und Kriterien heranziehen. Findet sich keine körperliche Erkrankung, weisen die Angaben des Patienten sowie seine Vorgeschichte aber auch nicht deutlich auf eine andere psychische Erkrankung hin, ist „Vegetative Dystonie / Psychovegetative Dystonie“ eine mögliche Diagnose.
Vegetative Dystonie: Behandlung
Da keine einheitlichen Ursachen für eine vegetative Dystonie bekannt sind, richtet sich die Therapie in erster Linie nach den Bedürfnissen und der Lebenslage des Patienten. Häufig ist eine Reduktion negativer Einflüsse bereits ausreichend – allen voran Stress und Überlastung. Auch andere Probleme in Lebensführung und Umfeld können unter Umständen gut eingegrenzt und behoben werden: Liebeskummer ebenso wie eine neue Lebenssituation, ein Trauerfall, tatsächliche Krankheit oder nur Angst vor Krankheit, Pflege eines Angehörigen bis hin zu Problemen der Überschuldung und drohender Privatinsolvenz. In vielen Fällen ist es zielführend, sich auf die eine oder andere Art Hilfe und Entlastung zu suchen, auch ohne die genauen Ursachen zu kennen. Die Prognose für die Heilung einer vegetativen beziehungsweise psychovegetativen Dystonie ist sehr gut. Oft verschwinden die Beschwerden sogar vollkommen von allein wieder, insbesondere wenn sich die belastende Situation oder die übrigen negativen Umstände zum Positiven verändern. Daher ist es für viele Betroffene sinnvoll, schlicht abzuwarten, wenn sie körperliche Ursachen ausschließen können. Lediglich beim parallelen Auftreten weiterer psychischer Erkrankungen, wie Angststörungen oder Depressionen, gestaltet sich eine Heilung schwieriger, ist jedoch ebenso wenig ausgeschlossen.
Zielführend ist es ebenfalls, sich mit den Gründen für die Belastung auseinanderzusetzen und kritisch zu hinterfragen, ob sich diese nicht ändern lassen. Achtsamkeit und die Fähigkeit, nein zu sagen sowie ein gewisses Maß an Selbstfürsorge sind hier wichtig. Nicht immer lassen sich diese Kenntnisse ganz alleine erwerben. Dann ist eine Therapie bei einem Psychologen eine sinnvolle Option, um Besserung zu erreichen (siehe unter anderem psychoanalytische Therapie, Gesprächstherapien). Hier können Schwierigkeiten besprochen und gemeinsam Strategien ausgearbeitet werden, um die eigenen Probleme zu identifizieren und mit ihnen umzugehen. Das kann einerseits helfen die Beschwerden loszuwerden, andererseits eine bessere Handhabung im Alltag ermöglichen. Treten starke Schmerzen auf, können auch Schmerzmittel zur Linderung beitragen. Weniger zielführend ist hingegen die Behandlung mit Medikamenten wie Psychopharmaka. Zwar können theoretisch auch einige Antidepressiva gegen Dystonie eingesetzt werden, doch einerseits ist ihr Nutzen bei der Heilung fragwürdig, andererseits gehen mit der Behandlung eine Reihe von Nebenwirkungen einher.
Kritik am „Konzept“ des Symptoms
Die Kritik richtet sich sowohl gegen die Diagnose „vegetative Dystonie“ als auch gegen die daraus folgenden Ansätze zu Ursache und Behandlung. Tatsächlich ist das Beschwerdebild so breit gefächert und so wenig aussagekräftig, dass die Existenz der Krankheit umstritten und wissenschaftlich nicht belegt ist.
Ein damit zusammenhängendes Problem ist, dass Beschwerden, die in vielen Fällen von allein verschwinden würden, pathologisiert werden. Das kann dazu führen, dass sich Betroffene eher schlechter als besser fühlen. Häufig wäre die Umschreibung „Stress“ für den Symptomkomplex völlig ausreichend und könnte auch zu den notwendigen Gegenmaßnahmen führen. Der Wunsch nach einer Diagnose, nach einer Lösung für das teilweise erhebliche Leiden ist für viele Betroffene jedoch sehr drängend.
Das wiederum ruft Vertreter diverser alternativer Ausrichtungen auf den Plan, die vermeintliche Heilmittel wie Akupunktur, Homöopathie oder Schüßler-Salze anbieten. Betroffene sind zum einen häufig verzweifelt genug, um auch diese Möglichkeiten – unabhängig von objektiven Belegen – auszuprobieren, zum anderen wünschen sie sich oft schnelle und einfache Hilfe. Alternativmedizin scheint dies nebenwirkungsfrei anzubieten. Allerdings führt das häufig dazu, dass sich Betroffene gegen die unbequeme, aber wirksamere Lösung entscheiden – sich mit ihren tatsächlichen Problemen auseinanderzusetzen. Da viele Dystonien jedoch von alleine verschwinden, erfreuen sich derartige Praktiken weiterhin großer Beliebtheit, auch aufgrund von Erfahrungsberichten zu vermeintlich erfolgreichen Behandlungen. Besonders problematisch ist das immer dann, wenn hinter der Dystonie eine deutlich schwerere Erkrankung, beispielsweise eine Depression oder ein organisches Problem verborgen liegt. Wird dann eine zielführende Behandlung hinausgezögert, führt dies unter Umständen zu ernsthaften gesundheitlichen Konsequenzen.
Unabhängig davon, ob echte Medikamente wie Psychopharmaka oder aber Homöopathie eingesetzt werden, besteht die Gefahr der Gewöhnung an eine Einnahme von Mitteln beim ersten Auftreten von Unwohlsein. Oft ist eine Veränderung der Lebensführung oder eine Therapie jedoch weitaus nützlicher.
Psychovegetative Dystonie | Quellen und weiterführende Ressourcen:
- de.wikipedia.org/wiki/Vegetative_Dystonie
- psychiater-psychotherapie.com/?p=20459&lang=de
- meine-gesundheit.de/krankheit/krankheiten/vegetative-dystonie
- gwup.org/images/pdf/INH_Praxisflyer_Download.pdf
- de.wikipedia.org/wiki/Akupunktur#Wissenschaftliche_Beurteilung
- de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%BC%C3%9Fler-Salze
- en.wikipedia.org/wiki/Dysautonomia#Vegetative-vascular_dystonia
- dystonie.de/krankheitsbilder/andere-formen/vegetative-dystonie.html